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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Grafen von Bissingen, den österreichischen Statthalter von Tyrol und Venedig
unter dem Ministerium Thun, und einen der entschiedensten Gegner des Reichs
durchzusetzen wußte. So lange man in Württemberg von Oben herab die
katholische Partei, ganz wie seiner Zeit in Hannover, als die wahre Stütze
des Throns betrachtet und ihre'Angehörigen bei jeder Gelegenheit mit beson¬
derer Vorliebe auszeichnet, kann es nicht fehlen, daß die großen Massen des
abhängigen Beamtenthums und damit die ganze Staatsverwaltung instinctiv
sich im ultramontanen Fahrwasser bewegt, wenn man auch sorgfältig jede offi-
cielle Parteinahme vermeidet. Unsere Regierung erntet dadurch die süßlichen
Schmeicheleien des Bischofs und seiner Klerisei, sowie die derberen Lobeser¬
hebungen der bayrischen Patrioten. Aber sie kann sich aus die Dauer nicht
genügen lassen an dem zweifelhaften Ruhm, durch Umschiffung aller kirchen¬
politischen Streitpunkte allein in Deutschland den kirchlichen Frieden erhalten
zu können. Das in früheren Tagen beliebte Regierungssystem, welches alle
Gegensätze in einen Brei der Gesinnungslosigkeit aufzulösen bemüht war,
kann in unserer energischen Zeit keinen Anspruch auf Erhaltung machen.
Und aus diesem Grunde vornehmlich ist der rasche Tod des Ministers von
Scheurlen ein unersetzlicher Verlust für unsere Particularisten. Wie nur
wenige im Lande besaß derselbe, unterstützt durch eine scheinbar unver¬
wüstliche Körper-Constitution, die Gabe der persönlichen Beeinflussung,
welche für, ein Regime unschätzbar war, das einer Kammermajorität um
jeden Preis bedürfte, und doch sehr wenige jener idealen Motive auf¬
zubieten hatte, durch welche Männer von entschiedenem politischen
Standpunkt auf die Masse des Volks einzuwirken vermögen. Gerade
dieses Feld der unmittelbaren Bearbeitung des Volkes und seiner Abge¬
ordneten ist den Ministern von Mittnacht und von Geßler fremd, aber auch
keiner der bis jetzt genannten Nachfolger scheint die erforderlichen Eigenschaften
zu besitzen. Man soll sich deßhalb neuerdings nothgedrungen mehr und mehr
zu dem Entschlüsse hinneigen, aus der bisherigen Reserve herauszutreten durch
Aufnahme eines hervorragenden, wenn auch gemäßigten Abgeordneten der
nationalen Partei in das Ministerium. Gewiß wäre dies das beste Mittel
zur Heilung unserer inneren Zustände, insbesondere- zur Einführung einer
frischeren Luft in unsere ganze Staatsverwaltung', aber wird ein solcher Schritt,
dessen Nothwendigkeit vielleicht dem politischen Scharfblick des Herrn von
Mittnacht nicht entgangen ist, auch höheren Orts Anklang finden? Bereits
wüthet die Volkspartei wegen der bevorstehenden Anstellung eines "Reichs¬
polizeidieners."

Inzwischen treten dem bisherigen System immer neue Schwierig¬
keiten entgegen. Wie wir schon früher auszuführen Gelegenheit fanden,
bildete der Eisenbahnbau auf Staatskosten in den letzten Jahren einen der


Grafen von Bissingen, den österreichischen Statthalter von Tyrol und Venedig
unter dem Ministerium Thun, und einen der entschiedensten Gegner des Reichs
durchzusetzen wußte. So lange man in Württemberg von Oben herab die
katholische Partei, ganz wie seiner Zeit in Hannover, als die wahre Stütze
des Throns betrachtet und ihre'Angehörigen bei jeder Gelegenheit mit beson¬
derer Vorliebe auszeichnet, kann es nicht fehlen, daß die großen Massen des
abhängigen Beamtenthums und damit die ganze Staatsverwaltung instinctiv
sich im ultramontanen Fahrwasser bewegt, wenn man auch sorgfältig jede offi-
cielle Parteinahme vermeidet. Unsere Regierung erntet dadurch die süßlichen
Schmeicheleien des Bischofs und seiner Klerisei, sowie die derberen Lobeser¬
hebungen der bayrischen Patrioten. Aber sie kann sich aus die Dauer nicht
genügen lassen an dem zweifelhaften Ruhm, durch Umschiffung aller kirchen¬
politischen Streitpunkte allein in Deutschland den kirchlichen Frieden erhalten
zu können. Das in früheren Tagen beliebte Regierungssystem, welches alle
Gegensätze in einen Brei der Gesinnungslosigkeit aufzulösen bemüht war,
kann in unserer energischen Zeit keinen Anspruch auf Erhaltung machen.
Und aus diesem Grunde vornehmlich ist der rasche Tod des Ministers von
Scheurlen ein unersetzlicher Verlust für unsere Particularisten. Wie nur
wenige im Lande besaß derselbe, unterstützt durch eine scheinbar unver¬
wüstliche Körper-Constitution, die Gabe der persönlichen Beeinflussung,
welche für, ein Regime unschätzbar war, das einer Kammermajorität um
jeden Preis bedürfte, und doch sehr wenige jener idealen Motive auf¬
zubieten hatte, durch welche Männer von entschiedenem politischen
Standpunkt auf die Masse des Volks einzuwirken vermögen. Gerade
dieses Feld der unmittelbaren Bearbeitung des Volkes und seiner Abge¬
ordneten ist den Ministern von Mittnacht und von Geßler fremd, aber auch
keiner der bis jetzt genannten Nachfolger scheint die erforderlichen Eigenschaften
zu besitzen. Man soll sich deßhalb neuerdings nothgedrungen mehr und mehr
zu dem Entschlüsse hinneigen, aus der bisherigen Reserve herauszutreten durch
Aufnahme eines hervorragenden, wenn auch gemäßigten Abgeordneten der
nationalen Partei in das Ministerium. Gewiß wäre dies das beste Mittel
zur Heilung unserer inneren Zustände, insbesondere- zur Einführung einer
frischeren Luft in unsere ganze Staatsverwaltung', aber wird ein solcher Schritt,
dessen Nothwendigkeit vielleicht dem politischen Scharfblick des Herrn von
Mittnacht nicht entgangen ist, auch höheren Orts Anklang finden? Bereits
wüthet die Volkspartei wegen der bevorstehenden Anstellung eines „Reichs¬
polizeidieners."

Inzwischen treten dem bisherigen System immer neue Schwierig¬
keiten entgegen. Wie wir schon früher auszuführen Gelegenheit fanden,
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[0320] Grafen von Bissingen, den österreichischen Statthalter von Tyrol und Venedig unter dem Ministerium Thun, und einen der entschiedensten Gegner des Reichs durchzusetzen wußte. So lange man in Württemberg von Oben herab die katholische Partei, ganz wie seiner Zeit in Hannover, als die wahre Stütze des Throns betrachtet und ihre'Angehörigen bei jeder Gelegenheit mit beson¬ derer Vorliebe auszeichnet, kann es nicht fehlen, daß die großen Massen des abhängigen Beamtenthums und damit die ganze Staatsverwaltung instinctiv sich im ultramontanen Fahrwasser bewegt, wenn man auch sorgfältig jede offi- cielle Parteinahme vermeidet. Unsere Regierung erntet dadurch die süßlichen Schmeicheleien des Bischofs und seiner Klerisei, sowie die derberen Lobeser¬ hebungen der bayrischen Patrioten. Aber sie kann sich aus die Dauer nicht genügen lassen an dem zweifelhaften Ruhm, durch Umschiffung aller kirchen¬ politischen Streitpunkte allein in Deutschland den kirchlichen Frieden erhalten zu können. Das in früheren Tagen beliebte Regierungssystem, welches alle Gegensätze in einen Brei der Gesinnungslosigkeit aufzulösen bemüht war, kann in unserer energischen Zeit keinen Anspruch auf Erhaltung machen. Und aus diesem Grunde vornehmlich ist der rasche Tod des Ministers von Scheurlen ein unersetzlicher Verlust für unsere Particularisten. Wie nur wenige im Lande besaß derselbe, unterstützt durch eine scheinbar unver¬ wüstliche Körper-Constitution, die Gabe der persönlichen Beeinflussung, welche für, ein Regime unschätzbar war, das einer Kammermajorität um jeden Preis bedürfte, und doch sehr wenige jener idealen Motive auf¬ zubieten hatte, durch welche Männer von entschiedenem politischen Standpunkt auf die Masse des Volks einzuwirken vermögen. Gerade dieses Feld der unmittelbaren Bearbeitung des Volkes und seiner Abge¬ ordneten ist den Ministern von Mittnacht und von Geßler fremd, aber auch keiner der bis jetzt genannten Nachfolger scheint die erforderlichen Eigenschaften zu besitzen. Man soll sich deßhalb neuerdings nothgedrungen mehr und mehr zu dem Entschlüsse hinneigen, aus der bisherigen Reserve herauszutreten durch Aufnahme eines hervorragenden, wenn auch gemäßigten Abgeordneten der nationalen Partei in das Ministerium. Gewiß wäre dies das beste Mittel zur Heilung unserer inneren Zustände, insbesondere- zur Einführung einer frischeren Luft in unsere ganze Staatsverwaltung', aber wird ein solcher Schritt, dessen Nothwendigkeit vielleicht dem politischen Scharfblick des Herrn von Mittnacht nicht entgangen ist, auch höheren Orts Anklang finden? Bereits wüthet die Volkspartei wegen der bevorstehenden Anstellung eines „Reichs¬ polizeidieners." Inzwischen treten dem bisherigen System immer neue Schwierig¬ keiten entgegen. Wie wir schon früher auszuführen Gelegenheit fanden, bildete der Eisenbahnbau auf Staatskosten in den letzten Jahren einen der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/320>, abgerufen am 16.06.2024.