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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band.

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erdachten Situationen zu einem Machwerk schlimmster Sorte degradirt. Da
Victor Cherbuliez den Deutschen die eroberten Provinzen nicht abnehmen
kann, so sollen ihre edelsten, idealen Güter daran, ihre Häuslichkeit, die Rein¬
heit ihrer Frauencharaktere, ihr Schwärmen für Poesie und Musik." "Kien
n'est LÄ0l'v xour rin LiMur!" möchten wir ausrufen, wenn wir sehen, wie
Cherbuliez gerade das unantastbare Palladium deutscher Weiblichkeit in den
Koth zu ziehen sucht. Wir sind nicht blind; es giebt gewiß in Deutschland
Frauen und Mädchen, deren Charakter so schlecht ist, wie der einer Med"
Holdenis. Auch Deutschland hat Zuchthäuser und Kindsmörderinnen und
Dirnen. Aber werde ich, um die französische Nation zu studiren, aus den
Galeeren meine Studien machen? Oder sind es überhaupt die seltenen Aus¬
nahmen, die ein Künstler zum Typus eines Volkes machen darf? Es soll
auch unter den Negern Albinos geben; wird ein Maler gerade ein Albino¬
exemplar malen, wenn er uns ein Bild aus Afrika geben will?^Nur die Ver¬
blendung des Nationalhasses hat Cherbuliez zu dieser Schandzeichnung seiner
Meta begeistern können. Und wie unwahr sind innerhalb des Bildes selbst
einzelne Züge. Ich behaupte, daß ein grundschlechter Mensch weder den Kö¬
nig in Thule noch Mozart's Musik so vortragen kann, daß sie das innerste
Herz ergreift und stütze mich dabei außer meinen eigenen Beobachtungen auf
ein lateinisches Wort, das da sagt: "Um ein guter Redner zu sein, muß man
zuerst ein guter Mensch sein." Es kommt aber dem französischen Schrift¬
steller darauf an, die deutsche Kunst mit der deutschen Weiblichkeit in den¬
selben Koth zu ziehen. Darum gerade häuft er auf Meta Holdenis alle
Gaben der Poesie und Musik gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit.
Ja, hohle Phrasen über Goethe und Schiller können solche Wesen wie eine
Meta im Munde führen, ein brillantes Salonstück vorspielen, aber nicht den
König in Thule herzbewegend declamiren, nicht Mozarts reine, himmlische
Musik vortragen. Cherbuliez ist jedoch geblendet wie der Stier, der auf die
rothe Fahne losgeht. Alle Schranken der Pietät überspringt er. So kommt
es ihm z. B. nicht in den Sinn, wie er bei der Schlußscene mit seinem drei¬
maligen Hahnenschrei den Hahnenschrei einer anderen nicht profanen Geschichte,
die auch dem negativsten Geiste lieb ist, pietätlos parodirt. Warum sollte
er nicht den König in Thule parodiren, ja an diesem Liede deutscher
Treue dadurch seinen Muthwillen kühlen, daß er es als das Lieblingslied eines
grundverdorbenen Wesens immer wieder bringt?

Herr Holdenis. der betrügerische deutsche Geschäftsmann, der Abends im
häuslichen Kreise die Bibellekture pflegt, zeigt, daß Cherbuliez den deutschen
Kaufmannsstand wenig kennt. Denn bei aller Rechtlichkeit und Genauig¬
keit, die den deutschen Kaufmannsstand auszeichnet, ist doch Frömmigkeit,
namentlich äußerlich gepflegte Frömmigkeit gewiß nicht sein Charakteristik"-".


Grenzboten IV. 1873. 3

erdachten Situationen zu einem Machwerk schlimmster Sorte degradirt. Da
Victor Cherbuliez den Deutschen die eroberten Provinzen nicht abnehmen
kann, so sollen ihre edelsten, idealen Güter daran, ihre Häuslichkeit, die Rein¬
heit ihrer Frauencharaktere, ihr Schwärmen für Poesie und Musik." „Kien
n'est LÄ0l'v xour rin LiMur!" möchten wir ausrufen, wenn wir sehen, wie
Cherbuliez gerade das unantastbare Palladium deutscher Weiblichkeit in den
Koth zu ziehen sucht. Wir sind nicht blind; es giebt gewiß in Deutschland
Frauen und Mädchen, deren Charakter so schlecht ist, wie der einer Med«
Holdenis. Auch Deutschland hat Zuchthäuser und Kindsmörderinnen und
Dirnen. Aber werde ich, um die französische Nation zu studiren, aus den
Galeeren meine Studien machen? Oder sind es überhaupt die seltenen Aus¬
nahmen, die ein Künstler zum Typus eines Volkes machen darf? Es soll
auch unter den Negern Albinos geben; wird ein Maler gerade ein Albino¬
exemplar malen, wenn er uns ein Bild aus Afrika geben will?^Nur die Ver¬
blendung des Nationalhasses hat Cherbuliez zu dieser Schandzeichnung seiner
Meta begeistern können. Und wie unwahr sind innerhalb des Bildes selbst
einzelne Züge. Ich behaupte, daß ein grundschlechter Mensch weder den Kö¬
nig in Thule noch Mozart's Musik so vortragen kann, daß sie das innerste
Herz ergreift und stütze mich dabei außer meinen eigenen Beobachtungen auf
ein lateinisches Wort, das da sagt: „Um ein guter Redner zu sein, muß man
zuerst ein guter Mensch sein." Es kommt aber dem französischen Schrift¬
steller darauf an, die deutsche Kunst mit der deutschen Weiblichkeit in den¬
selben Koth zu ziehen. Darum gerade häuft er auf Meta Holdenis alle
Gaben der Poesie und Musik gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit.
Ja, hohle Phrasen über Goethe und Schiller können solche Wesen wie eine
Meta im Munde führen, ein brillantes Salonstück vorspielen, aber nicht den
König in Thule herzbewegend declamiren, nicht Mozarts reine, himmlische
Musik vortragen. Cherbuliez ist jedoch geblendet wie der Stier, der auf die
rothe Fahne losgeht. Alle Schranken der Pietät überspringt er. So kommt
es ihm z. B. nicht in den Sinn, wie er bei der Schlußscene mit seinem drei¬
maligen Hahnenschrei den Hahnenschrei einer anderen nicht profanen Geschichte,
die auch dem negativsten Geiste lieb ist, pietätlos parodirt. Warum sollte
er nicht den König in Thule parodiren, ja an diesem Liede deutscher
Treue dadurch seinen Muthwillen kühlen, daß er es als das Lieblingslied eines
grundverdorbenen Wesens immer wieder bringt?

Herr Holdenis. der betrügerische deutsche Geschäftsmann, der Abends im
häuslichen Kreise die Bibellekture pflegt, zeigt, daß Cherbuliez den deutschen
Kaufmannsstand wenig kennt. Denn bei aller Rechtlichkeit und Genauig¬
keit, die den deutschen Kaufmannsstand auszeichnet, ist doch Frömmigkeit,
namentlich äußerlich gepflegte Frömmigkeit gewiß nicht sein Charakteristik»-«.


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[0025] erdachten Situationen zu einem Machwerk schlimmster Sorte degradirt. Da Victor Cherbuliez den Deutschen die eroberten Provinzen nicht abnehmen kann, so sollen ihre edelsten, idealen Güter daran, ihre Häuslichkeit, die Rein¬ heit ihrer Frauencharaktere, ihr Schwärmen für Poesie und Musik." „Kien n'est LÄ0l'v xour rin LiMur!" möchten wir ausrufen, wenn wir sehen, wie Cherbuliez gerade das unantastbare Palladium deutscher Weiblichkeit in den Koth zu ziehen sucht. Wir sind nicht blind; es giebt gewiß in Deutschland Frauen und Mädchen, deren Charakter so schlecht ist, wie der einer Med« Holdenis. Auch Deutschland hat Zuchthäuser und Kindsmörderinnen und Dirnen. Aber werde ich, um die französische Nation zu studiren, aus den Galeeren meine Studien machen? Oder sind es überhaupt die seltenen Aus¬ nahmen, die ein Künstler zum Typus eines Volkes machen darf? Es soll auch unter den Negern Albinos geben; wird ein Maler gerade ein Albino¬ exemplar malen, wenn er uns ein Bild aus Afrika geben will?^Nur die Ver¬ blendung des Nationalhasses hat Cherbuliez zu dieser Schandzeichnung seiner Meta begeistern können. Und wie unwahr sind innerhalb des Bildes selbst einzelne Züge. Ich behaupte, daß ein grundschlechter Mensch weder den Kö¬ nig in Thule noch Mozart's Musik so vortragen kann, daß sie das innerste Herz ergreift und stütze mich dabei außer meinen eigenen Beobachtungen auf ein lateinisches Wort, das da sagt: „Um ein guter Redner zu sein, muß man zuerst ein guter Mensch sein." Es kommt aber dem französischen Schrift¬ steller darauf an, die deutsche Kunst mit der deutschen Weiblichkeit in den¬ selben Koth zu ziehen. Darum gerade häuft er auf Meta Holdenis alle Gaben der Poesie und Musik gegen alle psychologische Wahrscheinlichkeit. Ja, hohle Phrasen über Goethe und Schiller können solche Wesen wie eine Meta im Munde führen, ein brillantes Salonstück vorspielen, aber nicht den König in Thule herzbewegend declamiren, nicht Mozarts reine, himmlische Musik vortragen. Cherbuliez ist jedoch geblendet wie der Stier, der auf die rothe Fahne losgeht. Alle Schranken der Pietät überspringt er. So kommt es ihm z. B. nicht in den Sinn, wie er bei der Schlußscene mit seinem drei¬ maligen Hahnenschrei den Hahnenschrei einer anderen nicht profanen Geschichte, die auch dem negativsten Geiste lieb ist, pietätlos parodirt. Warum sollte er nicht den König in Thule parodiren, ja an diesem Liede deutscher Treue dadurch seinen Muthwillen kühlen, daß er es als das Lieblingslied eines grundverdorbenen Wesens immer wieder bringt? Herr Holdenis. der betrügerische deutsche Geschäftsmann, der Abends im häuslichen Kreise die Bibellekture pflegt, zeigt, daß Cherbuliez den deutschen Kaufmannsstand wenig kennt. Denn bei aller Rechtlichkeit und Genauig¬ keit, die den deutschen Kaufmannsstand auszeichnet, ist doch Frömmigkeit, namentlich äußerlich gepflegte Frömmigkeit gewiß nicht sein Charakteristik»-«. Grenzboten IV. 1873. 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_130059/25>, abgerufen am 19.05.2024.