Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Herrn, sei er Deutscher, Russe oder anderer Nationalität "Saks", d. h. Sachse,
denn die Eroberer stammten aus Altsachsen, dem nordwestlichen Deutschland.
Der Ehste erscheint uns überall als der Dienende und ein ehstnischer Geist-
licher in Riga konnte sich auf Hunsalvy's Anregung hin nicht einmal zu
dem Gedanken emporschwingen, daß in der Stadt, die eine essenische Gemeinde
besitzt, auch eine essenische Elementarschule existiren müsse. "Weil man die
Schule nicht braucht," meinte der Geistliche. "Der Ehste wünscht es gar nicht,
denn er will, daß sein Kind Deutsch lerne, da es nur so fortkommen kann."
Uebersehen wir aber hierbei nicht, daß Riga nicht auf ehstnischem, sondern
auf keltischen Boden liegt, im eigentlichen Ehstland, bei Dorpat, Reval u. s. w.
ist das anders, und hier entwickelt uns Hunfalvy ein, wenn auch bescheidenes,
doch reges und nicht zukunftsloses national-literarisches Streben der Ehsten,
in das er liebevoll eindringt, das er gegen russische Vergewaltigungsmaßregeln
vertheidigt. Der Russe ist überhaupt der einzige, der im Buche schlecht weg¬
kommt. Man hört den Magyaren reden.

Bis vor Kurzem war die Lage der Ehsten eine sehr üble. Ein Brief,
der ehstnisch adressirr war, wurde auf der Post nicht angenommen. Die ehst-
nischen Bauern hatten nur Taus- aber keine Familiennamen. Als die Re¬
gierung bei der letzten Volkszählung verordnete, daß bei den Ehsten Zunamen
eingeführt werden sollten, entstand überall große Verlegenheit, denn die Ehsten
hatten von solchen keine Ahnung, wußten nicht, wie sie das anfangen sollten.
Unsere Juden verfielen ehedem bei der gleichen Gelegenheit auf ihre Rosen¬
feld, Lilienthal, Löwenstein und Löwenberg, in Ehstland aber fanden sich
alberne Menschen, die allerhand deutsche Spottnamen für die Ehsten ein¬
schrieben. Wurde ein Ehste nach seinem Zunamen gefragt, so antwortete er
"zu moista, -- ich weiß nicht, und nun wurde er als Moista eingeschrieben.
Aus diesen Vorgängen erklären sich die sonst auffallend erscheinenden deutschen
Eigennamen der Ehsten.

Das ganze Ehstenvolk umfaßt nur 600--700,000 Seelen, die trotz ihrer
geringen Zahl unter eifrigen Führern, unter denen Jaensen hervorzuheben,
sich immerhin rührig erweisen. Es existiren fünf essenische Zeitungen, von
welchen vier in Dorpat erscheinen. Wie andere Minoritäten knüpfen sie an
ihre alten Bolkssagen und Epen (die Kalevi-poeg-Sage) an und suchen sich
in nationaler Beziehung daran aufzurichten. Höchst interessant sind die von
Hunfalvy über die Religion, die Literatur und die Sprache der Ehsten ge¬
machten Mittheilungen. Wer über die Ostseeprovinzen sich künftighin orien-
ti ". ren will, darf Hunsalvy's Buch nicht unberücksichtigt lassen.




Herrn, sei er Deutscher, Russe oder anderer Nationalität „Saks", d. h. Sachse,
denn die Eroberer stammten aus Altsachsen, dem nordwestlichen Deutschland.
Der Ehste erscheint uns überall als der Dienende und ein ehstnischer Geist-
licher in Riga konnte sich auf Hunsalvy's Anregung hin nicht einmal zu
dem Gedanken emporschwingen, daß in der Stadt, die eine essenische Gemeinde
besitzt, auch eine essenische Elementarschule existiren müsse. „Weil man die
Schule nicht braucht," meinte der Geistliche. „Der Ehste wünscht es gar nicht,
denn er will, daß sein Kind Deutsch lerne, da es nur so fortkommen kann."
Uebersehen wir aber hierbei nicht, daß Riga nicht auf ehstnischem, sondern
auf keltischen Boden liegt, im eigentlichen Ehstland, bei Dorpat, Reval u. s. w.
ist das anders, und hier entwickelt uns Hunfalvy ein, wenn auch bescheidenes,
doch reges und nicht zukunftsloses national-literarisches Streben der Ehsten,
in das er liebevoll eindringt, das er gegen russische Vergewaltigungsmaßregeln
vertheidigt. Der Russe ist überhaupt der einzige, der im Buche schlecht weg¬
kommt. Man hört den Magyaren reden.

Bis vor Kurzem war die Lage der Ehsten eine sehr üble. Ein Brief,
der ehstnisch adressirr war, wurde auf der Post nicht angenommen. Die ehst-
nischen Bauern hatten nur Taus- aber keine Familiennamen. Als die Re¬
gierung bei der letzten Volkszählung verordnete, daß bei den Ehsten Zunamen
eingeführt werden sollten, entstand überall große Verlegenheit, denn die Ehsten
hatten von solchen keine Ahnung, wußten nicht, wie sie das anfangen sollten.
Unsere Juden verfielen ehedem bei der gleichen Gelegenheit auf ihre Rosen¬
feld, Lilienthal, Löwenstein und Löwenberg, in Ehstland aber fanden sich
alberne Menschen, die allerhand deutsche Spottnamen für die Ehsten ein¬
schrieben. Wurde ein Ehste nach seinem Zunamen gefragt, so antwortete er
«zu moista, — ich weiß nicht, und nun wurde er als Moista eingeschrieben.
Aus diesen Vorgängen erklären sich die sonst auffallend erscheinenden deutschen
Eigennamen der Ehsten.

Das ganze Ehstenvolk umfaßt nur 600—700,000 Seelen, die trotz ihrer
geringen Zahl unter eifrigen Führern, unter denen Jaensen hervorzuheben,
sich immerhin rührig erweisen. Es existiren fünf essenische Zeitungen, von
welchen vier in Dorpat erscheinen. Wie andere Minoritäten knüpfen sie an
ihre alten Bolkssagen und Epen (die Kalevi-poeg-Sage) an und suchen sich
in nationaler Beziehung daran aufzurichten. Höchst interessant sind die von
Hunfalvy über die Religion, die Literatur und die Sprache der Ehsten ge¬
machten Mittheilungen. Wer über die Ostseeprovinzen sich künftighin orien-
ti «. ren will, darf Hunsalvy's Buch nicht unberücksichtigt lassen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0516" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/130576"/>
          <p xml:id="ID_1519" prev="#ID_1518"> Herrn, sei er Deutscher, Russe oder anderer Nationalität &#x201E;Saks", d. h. Sachse,<lb/>
denn die Eroberer stammten aus Altsachsen, dem nordwestlichen Deutschland.<lb/>
Der Ehste erscheint uns überall als der Dienende und ein ehstnischer Geist-<lb/>
licher in Riga konnte sich auf Hunsalvy's Anregung hin nicht einmal zu<lb/>
dem Gedanken emporschwingen, daß in der Stadt, die eine essenische Gemeinde<lb/>
besitzt, auch eine essenische Elementarschule existiren müsse. &#x201E;Weil man die<lb/>
Schule nicht braucht," meinte der Geistliche. &#x201E;Der Ehste wünscht es gar nicht,<lb/>
denn er will, daß sein Kind Deutsch lerne, da es nur so fortkommen kann."<lb/>
Uebersehen wir aber hierbei nicht, daß Riga nicht auf ehstnischem, sondern<lb/>
auf keltischen Boden liegt, im eigentlichen Ehstland, bei Dorpat, Reval u. s. w.<lb/>
ist das anders, und hier entwickelt uns Hunfalvy ein, wenn auch bescheidenes,<lb/>
doch reges und nicht zukunftsloses national-literarisches Streben der Ehsten,<lb/>
in das er liebevoll eindringt, das er gegen russische Vergewaltigungsmaßregeln<lb/>
vertheidigt. Der Russe ist überhaupt der einzige, der im Buche schlecht weg¬<lb/>
kommt. Man hört den Magyaren reden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1520"> Bis vor Kurzem war die Lage der Ehsten eine sehr üble. Ein Brief,<lb/>
der ehstnisch adressirr war, wurde auf der Post nicht angenommen. Die ehst-<lb/>
nischen Bauern hatten nur Taus- aber keine Familiennamen. Als die Re¬<lb/>
gierung bei der letzten Volkszählung verordnete, daß bei den Ehsten Zunamen<lb/>
eingeführt werden sollten, entstand überall große Verlegenheit, denn die Ehsten<lb/>
hatten von solchen keine Ahnung, wußten nicht, wie sie das anfangen sollten.<lb/>
Unsere Juden verfielen ehedem bei der gleichen Gelegenheit auf ihre Rosen¬<lb/>
feld, Lilienthal, Löwenstein und Löwenberg, in Ehstland aber fanden sich<lb/>
alberne Menschen, die allerhand deutsche Spottnamen für die Ehsten ein¬<lb/>
schrieben. Wurde ein Ehste nach seinem Zunamen gefragt, so antwortete er<lb/>
«zu moista, &#x2014; ich weiß nicht, und nun wurde er als Moista eingeschrieben.<lb/>
Aus diesen Vorgängen erklären sich die sonst auffallend erscheinenden deutschen<lb/>
Eigennamen der Ehsten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1521"> Das ganze Ehstenvolk umfaßt nur 600&#x2014;700,000 Seelen, die trotz ihrer<lb/>
geringen Zahl unter eifrigen Führern, unter denen Jaensen hervorzuheben,<lb/>
sich immerhin rührig erweisen. Es existiren fünf essenische Zeitungen, von<lb/>
welchen vier in Dorpat erscheinen. Wie andere Minoritäten knüpfen sie an<lb/>
ihre alten Bolkssagen und Epen (die Kalevi-poeg-Sage) an und suchen sich<lb/>
in nationaler Beziehung daran aufzurichten. Höchst interessant sind die von<lb/>
Hunfalvy über die Religion, die Literatur und die Sprache der Ehsten ge¬<lb/>
machten Mittheilungen. Wer über die Ostseeprovinzen sich künftighin orien-<lb/>
ti<note type="byline"> «.</note> ren will, darf Hunsalvy's Buch nicht unberücksichtigt lassen. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0516] Herrn, sei er Deutscher, Russe oder anderer Nationalität „Saks", d. h. Sachse, denn die Eroberer stammten aus Altsachsen, dem nordwestlichen Deutschland. Der Ehste erscheint uns überall als der Dienende und ein ehstnischer Geist- licher in Riga konnte sich auf Hunsalvy's Anregung hin nicht einmal zu dem Gedanken emporschwingen, daß in der Stadt, die eine essenische Gemeinde besitzt, auch eine essenische Elementarschule existiren müsse. „Weil man die Schule nicht braucht," meinte der Geistliche. „Der Ehste wünscht es gar nicht, denn er will, daß sein Kind Deutsch lerne, da es nur so fortkommen kann." Uebersehen wir aber hierbei nicht, daß Riga nicht auf ehstnischem, sondern auf keltischen Boden liegt, im eigentlichen Ehstland, bei Dorpat, Reval u. s. w. ist das anders, und hier entwickelt uns Hunfalvy ein, wenn auch bescheidenes, doch reges und nicht zukunftsloses national-literarisches Streben der Ehsten, in das er liebevoll eindringt, das er gegen russische Vergewaltigungsmaßregeln vertheidigt. Der Russe ist überhaupt der einzige, der im Buche schlecht weg¬ kommt. Man hört den Magyaren reden. Bis vor Kurzem war die Lage der Ehsten eine sehr üble. Ein Brief, der ehstnisch adressirr war, wurde auf der Post nicht angenommen. Die ehst- nischen Bauern hatten nur Taus- aber keine Familiennamen. Als die Re¬ gierung bei der letzten Volkszählung verordnete, daß bei den Ehsten Zunamen eingeführt werden sollten, entstand überall große Verlegenheit, denn die Ehsten hatten von solchen keine Ahnung, wußten nicht, wie sie das anfangen sollten. Unsere Juden verfielen ehedem bei der gleichen Gelegenheit auf ihre Rosen¬ feld, Lilienthal, Löwenstein und Löwenberg, in Ehstland aber fanden sich alberne Menschen, die allerhand deutsche Spottnamen für die Ehsten ein¬ schrieben. Wurde ein Ehste nach seinem Zunamen gefragt, so antwortete er «zu moista, — ich weiß nicht, und nun wurde er als Moista eingeschrieben. Aus diesen Vorgängen erklären sich die sonst auffallend erscheinenden deutschen Eigennamen der Ehsten. Das ganze Ehstenvolk umfaßt nur 600—700,000 Seelen, die trotz ihrer geringen Zahl unter eifrigen Führern, unter denen Jaensen hervorzuheben, sich immerhin rührig erweisen. Es existiren fünf essenische Zeitungen, von welchen vier in Dorpat erscheinen. Wie andere Minoritäten knüpfen sie an ihre alten Bolkssagen und Epen (die Kalevi-poeg-Sage) an und suchen sich in nationaler Beziehung daran aufzurichten. Höchst interessant sind die von Hunfalvy über die Religion, die Literatur und die Sprache der Ehsten ge¬ machten Mittheilungen. Wer über die Ostseeprovinzen sich künftighin orien- ti «. ren will, darf Hunsalvy's Buch nicht unberücksichtigt lassen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_130059
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_130059/516
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_130059/516>, abgerufen am 10.06.2024.