Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

warm tritt es für oder gegen die neue ein. Liegt doch im Volk grad eben¬
soviel Verständniß, guter Wille und nachhaltige Kraft, wie in seinen Ver¬
tretern und Vertrauensmännern, nur braucht es unter seiner harten Arbeit
mehr Zeit, als diese in ihrer Ungeduld ihm zu geben pflegen, um über wich¬
tige Angelegenheiten ins Klare zu kommen und zu einem Entschluß zu ge¬
langen. Sodann erwärmt sich das Volk nie für bloße Grundsätze, auch nicht
durch Beispiele aus dem Alterthum oder aus entlegenen Ländern; dagegen
ist die Tagesgeschichte des eigenen Landes ihm, was dem Kinde sein Bilde"
duch, und die Presse, welche ihre Aufgabe versteht, predigt nicht abstrakt und
herrisch in dasselbe hinein, sondern der Mutter gleich macht sie diese Bilder
reden. erklärt und deutet sie und nimmt ihre guten Lehren aus jenen her¬
aus.

Weder den Staatsmännern noch den Journalisten unserer kleinen Re¬
publik ist es bis jetzt gelungen, dem eigenthümlichen Wesen unseres Volkes
völlig gerecht zu werden; daher haben unter den feurigen Anhängern des
Entwurfs vom 12. Mai 1872 nur die wenigsten dennoch sein Unterliegen
mit klarem Blick vorausgesehn. Heute sagen wir jedoch: es hat kaum an¬
ders kommen können. Allerdings hatte der große Krieg bedeutende Mängel
in unserm Staatsleben und unsern militärischen Einrichtungen bloß gelegt,
allein diesem Krieg hatten wir nur zugeschaut, ob auch nicht thatlos, und
so wirkte er nicht eine mächtige innere Erhebung, sondern ließ einfach eine
große Abspannung zurück. Allerdings bedürfte unser Grundgesetz von 1848
dringend einer Weiterbildung, allein im Ganzen war dasselbe ein treffliches
und umsichtiges Werk, ihm nicht zum wenigsten verdanken wir vierundzwan¬
zig Jahre fröhlichen Gedeihens; seine alten Freunde ließen nur ungern von
ihm und seine alten Feinde hatte es zu Freunden ' gemacht. Dazu kam die
besonders von unsern kleinen Herrn geschürte Liebe zur Kantonalsouveränetät,
ferner das Mißtrauen der in ihrer Minderheit und in ihrer Unkenntniß des
Deutschen doppelt empfindlichen romanischen Bevölkerung und die feste Ge^
schlossenheit der katholischen Kirche, welche durch den Mund ihrer vereinigten
Bischöfe Wünsche an die Revision erhoben, die fast wie Drohungen klangen.
Nur schwer löste das Alte und Sichere sich ab, unsicher tappend, schwankend,
in Vor- und Rücksprüngen kam das Neue; an jenem wußte man, was man
hatte, von diesem vermochte man die Tragweite nicht zu überschauen und da
rum graute Einem. Auf die Führer war l'ein rechter Verlaß: der Bundes¬
rath in sich gespalten, das Revisionswerk seinen eigenen Urhebern über den
Kopf gewachsen, Manches bis zuletzt, auch für sie nicht völlig abgeklärt, so
das Maß der Einmischung des Bundes in die Volksschule, eine Frage, an
die Anfangs kaum Jemand gedacht hatte. Doch noch schlimmer war, daß
die Berathungen 'des Entwurfes durch die beiden Räthe dem Volk so gut


warm tritt es für oder gegen die neue ein. Liegt doch im Volk grad eben¬
soviel Verständniß, guter Wille und nachhaltige Kraft, wie in seinen Ver¬
tretern und Vertrauensmännern, nur braucht es unter seiner harten Arbeit
mehr Zeit, als diese in ihrer Ungeduld ihm zu geben pflegen, um über wich¬
tige Angelegenheiten ins Klare zu kommen und zu einem Entschluß zu ge¬
langen. Sodann erwärmt sich das Volk nie für bloße Grundsätze, auch nicht
durch Beispiele aus dem Alterthum oder aus entlegenen Ländern; dagegen
ist die Tagesgeschichte des eigenen Landes ihm, was dem Kinde sein Bilde»
duch, und die Presse, welche ihre Aufgabe versteht, predigt nicht abstrakt und
herrisch in dasselbe hinein, sondern der Mutter gleich macht sie diese Bilder
reden. erklärt und deutet sie und nimmt ihre guten Lehren aus jenen her¬
aus.

Weder den Staatsmännern noch den Journalisten unserer kleinen Re¬
publik ist es bis jetzt gelungen, dem eigenthümlichen Wesen unseres Volkes
völlig gerecht zu werden; daher haben unter den feurigen Anhängern des
Entwurfs vom 12. Mai 1872 nur die wenigsten dennoch sein Unterliegen
mit klarem Blick vorausgesehn. Heute sagen wir jedoch: es hat kaum an¬
ders kommen können. Allerdings hatte der große Krieg bedeutende Mängel
in unserm Staatsleben und unsern militärischen Einrichtungen bloß gelegt,
allein diesem Krieg hatten wir nur zugeschaut, ob auch nicht thatlos, und
so wirkte er nicht eine mächtige innere Erhebung, sondern ließ einfach eine
große Abspannung zurück. Allerdings bedürfte unser Grundgesetz von 1848
dringend einer Weiterbildung, allein im Ganzen war dasselbe ein treffliches
und umsichtiges Werk, ihm nicht zum wenigsten verdanken wir vierundzwan¬
zig Jahre fröhlichen Gedeihens; seine alten Freunde ließen nur ungern von
ihm und seine alten Feinde hatte es zu Freunden ' gemacht. Dazu kam die
besonders von unsern kleinen Herrn geschürte Liebe zur Kantonalsouveränetät,
ferner das Mißtrauen der in ihrer Minderheit und in ihrer Unkenntniß des
Deutschen doppelt empfindlichen romanischen Bevölkerung und die feste Ge^
schlossenheit der katholischen Kirche, welche durch den Mund ihrer vereinigten
Bischöfe Wünsche an die Revision erhoben, die fast wie Drohungen klangen.
Nur schwer löste das Alte und Sichere sich ab, unsicher tappend, schwankend,
in Vor- und Rücksprüngen kam das Neue; an jenem wußte man, was man
hatte, von diesem vermochte man die Tragweite nicht zu überschauen und da
rum graute Einem. Auf die Führer war l'ein rechter Verlaß: der Bundes¬
rath in sich gespalten, das Revisionswerk seinen eigenen Urhebern über den
Kopf gewachsen, Manches bis zuletzt, auch für sie nicht völlig abgeklärt, so
das Maß der Einmischung des Bundes in die Volksschule, eine Frage, an
die Anfangs kaum Jemand gedacht hatte. Doch noch schlimmer war, daß
die Berathungen 'des Entwurfes durch die beiden Räthe dem Volk so gut


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0077" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192880"/>
          <p xml:id="ID_210" prev="#ID_209"> warm tritt es für oder gegen die neue ein. Liegt doch im Volk grad eben¬<lb/>
soviel Verständniß, guter Wille und nachhaltige Kraft, wie in seinen Ver¬<lb/>
tretern und Vertrauensmännern, nur braucht es unter seiner harten Arbeit<lb/>
mehr Zeit, als diese in ihrer Ungeduld ihm zu geben pflegen, um über wich¬<lb/>
tige Angelegenheiten ins Klare zu kommen und zu einem Entschluß zu ge¬<lb/>
langen. Sodann erwärmt sich das Volk nie für bloße Grundsätze, auch nicht<lb/>
durch Beispiele aus dem Alterthum oder aus entlegenen Ländern; dagegen<lb/>
ist die Tagesgeschichte des eigenen Landes ihm, was dem Kinde sein Bilde»<lb/>
duch, und die Presse, welche ihre Aufgabe versteht, predigt nicht abstrakt und<lb/>
herrisch in dasselbe hinein, sondern der Mutter gleich macht sie diese Bilder<lb/>
reden. erklärt und deutet sie und nimmt ihre guten Lehren aus jenen her¬<lb/>
aus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_211" next="#ID_212"> Weder den Staatsmännern noch den Journalisten unserer kleinen Re¬<lb/>
publik ist es bis jetzt gelungen, dem eigenthümlichen Wesen unseres Volkes<lb/>
völlig gerecht zu werden; daher haben unter den feurigen Anhängern des<lb/>
Entwurfs vom 12. Mai 1872 nur die wenigsten dennoch sein Unterliegen<lb/>
mit klarem Blick vorausgesehn. Heute sagen wir jedoch: es hat kaum an¬<lb/>
ders kommen können. Allerdings hatte der große Krieg bedeutende Mängel<lb/>
in unserm Staatsleben und unsern militärischen Einrichtungen bloß gelegt,<lb/>
allein diesem Krieg hatten wir nur zugeschaut, ob auch nicht thatlos, und<lb/>
so wirkte er nicht eine mächtige innere Erhebung, sondern ließ einfach eine<lb/>
große Abspannung zurück. Allerdings bedürfte unser Grundgesetz von 1848<lb/>
dringend einer Weiterbildung, allein im Ganzen war dasselbe ein treffliches<lb/>
und umsichtiges Werk, ihm nicht zum wenigsten verdanken wir vierundzwan¬<lb/>
zig Jahre fröhlichen Gedeihens; seine alten Freunde ließen nur ungern von<lb/>
ihm und seine alten Feinde hatte es zu Freunden ' gemacht. Dazu kam die<lb/>
besonders von unsern kleinen Herrn geschürte Liebe zur Kantonalsouveränetät,<lb/>
ferner das Mißtrauen der in ihrer Minderheit und in ihrer Unkenntniß des<lb/>
Deutschen doppelt empfindlichen romanischen Bevölkerung und die feste Ge^<lb/>
schlossenheit der katholischen Kirche, welche durch den Mund ihrer vereinigten<lb/>
Bischöfe Wünsche an die Revision erhoben, die fast wie Drohungen klangen.<lb/>
Nur schwer löste das Alte und Sichere sich ab, unsicher tappend, schwankend,<lb/>
in Vor- und Rücksprüngen kam das Neue; an jenem wußte man, was man<lb/>
hatte, von diesem vermochte man die Tragweite nicht zu überschauen und da<lb/>
rum graute Einem. Auf die Führer war l'ein rechter Verlaß: der Bundes¬<lb/>
rath in sich gespalten, das Revisionswerk seinen eigenen Urhebern über den<lb/>
Kopf gewachsen, Manches bis zuletzt, auch für sie nicht völlig abgeklärt, so<lb/>
das Maß der Einmischung des Bundes in die Volksschule, eine Frage, an<lb/>
die Anfangs kaum Jemand gedacht hatte. Doch noch schlimmer war, daß<lb/>
die Berathungen 'des Entwurfes durch die beiden Räthe dem Volk so gut</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0077] warm tritt es für oder gegen die neue ein. Liegt doch im Volk grad eben¬ soviel Verständniß, guter Wille und nachhaltige Kraft, wie in seinen Ver¬ tretern und Vertrauensmännern, nur braucht es unter seiner harten Arbeit mehr Zeit, als diese in ihrer Ungeduld ihm zu geben pflegen, um über wich¬ tige Angelegenheiten ins Klare zu kommen und zu einem Entschluß zu ge¬ langen. Sodann erwärmt sich das Volk nie für bloße Grundsätze, auch nicht durch Beispiele aus dem Alterthum oder aus entlegenen Ländern; dagegen ist die Tagesgeschichte des eigenen Landes ihm, was dem Kinde sein Bilde» duch, und die Presse, welche ihre Aufgabe versteht, predigt nicht abstrakt und herrisch in dasselbe hinein, sondern der Mutter gleich macht sie diese Bilder reden. erklärt und deutet sie und nimmt ihre guten Lehren aus jenen her¬ aus. Weder den Staatsmännern noch den Journalisten unserer kleinen Re¬ publik ist es bis jetzt gelungen, dem eigenthümlichen Wesen unseres Volkes völlig gerecht zu werden; daher haben unter den feurigen Anhängern des Entwurfs vom 12. Mai 1872 nur die wenigsten dennoch sein Unterliegen mit klarem Blick vorausgesehn. Heute sagen wir jedoch: es hat kaum an¬ ders kommen können. Allerdings hatte der große Krieg bedeutende Mängel in unserm Staatsleben und unsern militärischen Einrichtungen bloß gelegt, allein diesem Krieg hatten wir nur zugeschaut, ob auch nicht thatlos, und so wirkte er nicht eine mächtige innere Erhebung, sondern ließ einfach eine große Abspannung zurück. Allerdings bedürfte unser Grundgesetz von 1848 dringend einer Weiterbildung, allein im Ganzen war dasselbe ein treffliches und umsichtiges Werk, ihm nicht zum wenigsten verdanken wir vierundzwan¬ zig Jahre fröhlichen Gedeihens; seine alten Freunde ließen nur ungern von ihm und seine alten Feinde hatte es zu Freunden ' gemacht. Dazu kam die besonders von unsern kleinen Herrn geschürte Liebe zur Kantonalsouveränetät, ferner das Mißtrauen der in ihrer Minderheit und in ihrer Unkenntniß des Deutschen doppelt empfindlichen romanischen Bevölkerung und die feste Ge^ schlossenheit der katholischen Kirche, welche durch den Mund ihrer vereinigten Bischöfe Wünsche an die Revision erhoben, die fast wie Drohungen klangen. Nur schwer löste das Alte und Sichere sich ab, unsicher tappend, schwankend, in Vor- und Rücksprüngen kam das Neue; an jenem wußte man, was man hatte, von diesem vermochte man die Tragweite nicht zu überschauen und da rum graute Einem. Auf die Führer war l'ein rechter Verlaß: der Bundes¬ rath in sich gespalten, das Revisionswerk seinen eigenen Urhebern über den Kopf gewachsen, Manches bis zuletzt, auch für sie nicht völlig abgeklärt, so das Maß der Einmischung des Bundes in die Volksschule, eine Frage, an die Anfangs kaum Jemand gedacht hatte. Doch noch schlimmer war, daß die Berathungen 'des Entwurfes durch die beiden Räthe dem Volk so gut

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/77
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/77>, abgerufen am 20.05.2024.