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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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des Leipziger Gewandhausorchesters nichts mehr nach; schade nur, daß sich
nicht die unvergleichliche Akustik des Gewandhaussaales hierher zaubern läßt!
Die von fremden Künstlern auf eigenes Risico gegebenen Concerte mehren
sich von Jahr zu Jahr, leider ohne sich immer auf der Höhe der Kunst zu
behaupten. Am reichsten und erfreulichsten aber haben sich jene Unternehmungen
entwickelt, welche die Meisterwerke der Tonkunst einem größeren Publikum
zugänglich zu machen bestrebt sind. Vor 10 Jahren war es noch der alte
Liebig allein, der mit seiner bescheidenen, aber trefflich geschulten Kapelle eine
immer wachsende Gemeinde andächtiger Zuhörer in seinen Symphonieconcerten,
die damals im Abonnement mit 3 Sgr, honorirt wurden, versammelte. Heute
existiren mindestens vier oder fünf derartiger Institute, darunter Kapellen von
dem Rufe der Bilse'schen. Ihre Programme gehören, wenn auch nicht ganz,
so doch vorwiegend der klassischen Musik, und so ist ihr Einfluß auf die Ge¬
schmacksbildung der Mittelklassen nicht hoch genug anzuschlagen.

. Ihren naturgemäßen und, setzen wir gleich hinzu, ihren würdigen Mittel¬
punkt findet die Pflege der Musik in der königl. Oper. Schreiber dieser
Zeilen rechnet sich zu Jenen, die über den Verlust der Lucca nnnals rechte
Trauer haben empfinden können, die ihre Ketzerei neuerdings sogar soweit
treiben, in diesem Verlust für die echte Kunst einen Gewinn zu erkennen.
Gewiß, wir Alle werden die genußreichen Momente in dankbarer Erinnerung
bewahren, welche uns die geniale Künstlerin heute als reizend neckische Sou¬
brette, morgen als leidenschaftflammende Tragödin bereitete. Aber wir ge¬
denken auch der nicht immer ganz kleinen Mängel ihrer gefänglichen Technik
und vor Allem jenes rücksichtslosen Hervortretens aus dem Rahmen des
Ganzen, welches den Organismus der Darstellung zerriß, die Mitwirkenden,
ja die ganze Oper zur bloßen Folie der Primadonna erniedrigte. Sie gab
damit allen Andern ein verderbliches Beispiel, und darum hauptsächlich dünkt
uns ihr Scheiden ein Gewinn. Heute sind die Spuren dieses Beispiels ziem¬
lich verwischt; auch Held Niemann beugt sich mehr und mehr den Regeln des
Kunstwerks. Im Ganzen befriedigen die heutigen Kräfte der Oper die An¬
sprüche, welche an ein so großartiges Institut gestellt werden Müssen. Betz
und Niemann suchen als dramatische Sänger ihresgleichen; auch Wachtel ist,
wie man hört, auf längere Zeit gewonnen. Nicht ganz so glänzend ist es um
den weiblichen Theil des Personals bestellt; doch wird auch Frau Mallinger
als Primadonna ihrer Aufgabe in anerkennenswerter Weise gerecht. Solche
Kräfte setzen eine Theaterleitung in den Stand, an die gefürchtetsten Schwierig¬
keiten der großen Oper kühn hinanzugehen. In der That werden uns die
Wagner'schen Opern in einer schwerlich anderswo erreichten Vollendung vor¬
geführt. Aber wie sehr man auch für das "Musikdrama" begeistert sein mag.
man wird es der Leitung doch Dank wissen müssen, wenn sie ihr Rep.rtoir


des Leipziger Gewandhausorchesters nichts mehr nach; schade nur, daß sich
nicht die unvergleichliche Akustik des Gewandhaussaales hierher zaubern läßt!
Die von fremden Künstlern auf eigenes Risico gegebenen Concerte mehren
sich von Jahr zu Jahr, leider ohne sich immer auf der Höhe der Kunst zu
behaupten. Am reichsten und erfreulichsten aber haben sich jene Unternehmungen
entwickelt, welche die Meisterwerke der Tonkunst einem größeren Publikum
zugänglich zu machen bestrebt sind. Vor 10 Jahren war es noch der alte
Liebig allein, der mit seiner bescheidenen, aber trefflich geschulten Kapelle eine
immer wachsende Gemeinde andächtiger Zuhörer in seinen Symphonieconcerten,
die damals im Abonnement mit 3 Sgr, honorirt wurden, versammelte. Heute
existiren mindestens vier oder fünf derartiger Institute, darunter Kapellen von
dem Rufe der Bilse'schen. Ihre Programme gehören, wenn auch nicht ganz,
so doch vorwiegend der klassischen Musik, und so ist ihr Einfluß auf die Ge¬
schmacksbildung der Mittelklassen nicht hoch genug anzuschlagen.

. Ihren naturgemäßen und, setzen wir gleich hinzu, ihren würdigen Mittel¬
punkt findet die Pflege der Musik in der königl. Oper. Schreiber dieser
Zeilen rechnet sich zu Jenen, die über den Verlust der Lucca nnnals rechte
Trauer haben empfinden können, die ihre Ketzerei neuerdings sogar soweit
treiben, in diesem Verlust für die echte Kunst einen Gewinn zu erkennen.
Gewiß, wir Alle werden die genußreichen Momente in dankbarer Erinnerung
bewahren, welche uns die geniale Künstlerin heute als reizend neckische Sou¬
brette, morgen als leidenschaftflammende Tragödin bereitete. Aber wir ge¬
denken auch der nicht immer ganz kleinen Mängel ihrer gefänglichen Technik
und vor Allem jenes rücksichtslosen Hervortretens aus dem Rahmen des
Ganzen, welches den Organismus der Darstellung zerriß, die Mitwirkenden,
ja die ganze Oper zur bloßen Folie der Primadonna erniedrigte. Sie gab
damit allen Andern ein verderbliches Beispiel, und darum hauptsächlich dünkt
uns ihr Scheiden ein Gewinn. Heute sind die Spuren dieses Beispiels ziem¬
lich verwischt; auch Held Niemann beugt sich mehr und mehr den Regeln des
Kunstwerks. Im Ganzen befriedigen die heutigen Kräfte der Oper die An¬
sprüche, welche an ein so großartiges Institut gestellt werden Müssen. Betz
und Niemann suchen als dramatische Sänger ihresgleichen; auch Wachtel ist,
wie man hört, auf längere Zeit gewonnen. Nicht ganz so glänzend ist es um
den weiblichen Theil des Personals bestellt; doch wird auch Frau Mallinger
als Primadonna ihrer Aufgabe in anerkennenswerter Weise gerecht. Solche
Kräfte setzen eine Theaterleitung in den Stand, an die gefürchtetsten Schwierig¬
keiten der großen Oper kühn hinanzugehen. In der That werden uns die
Wagner'schen Opern in einer schwerlich anderswo erreichten Vollendung vor¬
geführt. Aber wie sehr man auch für das „Musikdrama" begeistert sein mag.
man wird es der Leitung doch Dank wissen müssen, wenn sie ihr Rep.rtoir


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[0123] des Leipziger Gewandhausorchesters nichts mehr nach; schade nur, daß sich nicht die unvergleichliche Akustik des Gewandhaussaales hierher zaubern läßt! Die von fremden Künstlern auf eigenes Risico gegebenen Concerte mehren sich von Jahr zu Jahr, leider ohne sich immer auf der Höhe der Kunst zu behaupten. Am reichsten und erfreulichsten aber haben sich jene Unternehmungen entwickelt, welche die Meisterwerke der Tonkunst einem größeren Publikum zugänglich zu machen bestrebt sind. Vor 10 Jahren war es noch der alte Liebig allein, der mit seiner bescheidenen, aber trefflich geschulten Kapelle eine immer wachsende Gemeinde andächtiger Zuhörer in seinen Symphonieconcerten, die damals im Abonnement mit 3 Sgr, honorirt wurden, versammelte. Heute existiren mindestens vier oder fünf derartiger Institute, darunter Kapellen von dem Rufe der Bilse'schen. Ihre Programme gehören, wenn auch nicht ganz, so doch vorwiegend der klassischen Musik, und so ist ihr Einfluß auf die Ge¬ schmacksbildung der Mittelklassen nicht hoch genug anzuschlagen. . Ihren naturgemäßen und, setzen wir gleich hinzu, ihren würdigen Mittel¬ punkt findet die Pflege der Musik in der königl. Oper. Schreiber dieser Zeilen rechnet sich zu Jenen, die über den Verlust der Lucca nnnals rechte Trauer haben empfinden können, die ihre Ketzerei neuerdings sogar soweit treiben, in diesem Verlust für die echte Kunst einen Gewinn zu erkennen. Gewiß, wir Alle werden die genußreichen Momente in dankbarer Erinnerung bewahren, welche uns die geniale Künstlerin heute als reizend neckische Sou¬ brette, morgen als leidenschaftflammende Tragödin bereitete. Aber wir ge¬ denken auch der nicht immer ganz kleinen Mängel ihrer gefänglichen Technik und vor Allem jenes rücksichtslosen Hervortretens aus dem Rahmen des Ganzen, welches den Organismus der Darstellung zerriß, die Mitwirkenden, ja die ganze Oper zur bloßen Folie der Primadonna erniedrigte. Sie gab damit allen Andern ein verderbliches Beispiel, und darum hauptsächlich dünkt uns ihr Scheiden ein Gewinn. Heute sind die Spuren dieses Beispiels ziem¬ lich verwischt; auch Held Niemann beugt sich mehr und mehr den Regeln des Kunstwerks. Im Ganzen befriedigen die heutigen Kräfte der Oper die An¬ sprüche, welche an ein so großartiges Institut gestellt werden Müssen. Betz und Niemann suchen als dramatische Sänger ihresgleichen; auch Wachtel ist, wie man hört, auf längere Zeit gewonnen. Nicht ganz so glänzend ist es um den weiblichen Theil des Personals bestellt; doch wird auch Frau Mallinger als Primadonna ihrer Aufgabe in anerkennenswerter Weise gerecht. Solche Kräfte setzen eine Theaterleitung in den Stand, an die gefürchtetsten Schwierig¬ keiten der großen Oper kühn hinanzugehen. In der That werden uns die Wagner'schen Opern in einer schwerlich anderswo erreichten Vollendung vor¬ geführt. Aber wie sehr man auch für das „Musikdrama" begeistert sein mag. man wird es der Leitung doch Dank wissen müssen, wenn sie ihr Rep.rtoir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/123>, abgerufen am 29.05.2024.