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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Im Parlamente und in der öffentlichen Meinung waren die Erfolge
Cavour's weniger rasch und unbestritten. Manche seiner Maßregeln stießen
auf harten Widerstand und, nachdem sie durchgesetzt worden, auf leidenschaft¬
lichen Tadel. So namentlich die Verträge, durch welche Cavour dem Frei¬
handel allmählig Bahn zu brechen suchte. Man beschuldigte ihn, dadurch nicht
nur eben so viele, die Wohlfahrt des sardinischen Volkes im höchsten Grade
gefährdende Mißgriffe gethan, sondern sogar die Interessen derselben geradezu
verrathen und in buchstäblichem Sinne an das Ausland verkauft zu haben. Ob¬
gleich eine trotz guter Erndte eintretende Theuerung solchen Klagen und Ver¬
dächtigungen einen bedenklichen Rückhalt zu geben schien, ließ sich Cavour
durch das Geschrei der Gegner seiner Handelspolitik und einer blindgläubigen
Menge keinen Augenblick irre machen oder einschüchtern, er bot vielmehr dem
öffentlichen Vorurtheil offen und beharrlich Trotz, bis der Erfolg dasselbe
entwaffnete.

Die Finanzen behandelte Cavour mit vorsichtiger und sparsamer Hand,
so lange der allgemeine europäische Friedensstand die Heilung der in den
letzten Jahren erlittenen Wunden Sardiniens und die Wiederherstellung seiner
Kräfte, in die erste Reihe der Aufgaben der Turiner Regierung stellte. Eine
ähnliche Selbstbeschränkung glaubte er von der Gesetzgebung auch auf dem
freiheitlichen Gebiete verlangen zu müssen, als der Pariser Staatsstreich vom
2. Dezember die europäische Reaction vollends in den Sattel gehoben und
dem vereinsamten liberalen Sardinien wenn nicht Zugeständnisse an die
Macht des Tages, so doch wenigstens eine gewisse Schonung derselben zur
Pflicht der Selbsterhaltung zu machen schien. Wie damals die deutsche Pre߬
polizei den französischen Hochverräther vom 2. Dez. unter ihren Schutz nehmen
zu sollen glaubte, so, wiewohl aus andern Gründen, die sardinische Regie¬
rungspolitik. Um auch in Italien den überschäumenden Haß gegen Louis
Bonaparte in gewissen Grenzen des Ausdrucks zu halten, beantragte das Tu¬
riner Ministerium, die gegen ein auswärtiges Staatsoberhaupt gerichteten
Preßvergehen der Zuständigkeit der Geschwornen zu entziehen und an die ge¬
wöhnlichen Gerichte zu verweisen. Cavour übernahm das schwierige Amt.
den zu diesem Zwecke von ihm selbst ausgearbeiteten Gesetzesvorschlag auch in
der Kammer zu vertreten. Nach heißem parlamentarischem Kampfe siegte Cavour
mit dem unerwarteten Beistand Ratazzi's, dem er bald darauf seine Dank¬
barkeit bezeigte, indem er ihn bei der Bewerbung um den Vorsitz in der
Kammer erfolgreich unterstützte. Diese Annäherung an den Mann, der
nachträglich als der Urheber des unzeitigen zweiten Krieges mit Oesterreich
bitter angefeindet, insbesondere für die Niederlage bei Novara verantwortlich
gemacht wurde, und überdies immer noch für einen übertriebenen Revolutio¬
när galt, verfeindete Cavour mit einem Theile seiner parlamentarischen Partei


Im Parlamente und in der öffentlichen Meinung waren die Erfolge
Cavour's weniger rasch und unbestritten. Manche seiner Maßregeln stießen
auf harten Widerstand und, nachdem sie durchgesetzt worden, auf leidenschaft¬
lichen Tadel. So namentlich die Verträge, durch welche Cavour dem Frei¬
handel allmählig Bahn zu brechen suchte. Man beschuldigte ihn, dadurch nicht
nur eben so viele, die Wohlfahrt des sardinischen Volkes im höchsten Grade
gefährdende Mißgriffe gethan, sondern sogar die Interessen derselben geradezu
verrathen und in buchstäblichem Sinne an das Ausland verkauft zu haben. Ob¬
gleich eine trotz guter Erndte eintretende Theuerung solchen Klagen und Ver¬
dächtigungen einen bedenklichen Rückhalt zu geben schien, ließ sich Cavour
durch das Geschrei der Gegner seiner Handelspolitik und einer blindgläubigen
Menge keinen Augenblick irre machen oder einschüchtern, er bot vielmehr dem
öffentlichen Vorurtheil offen und beharrlich Trotz, bis der Erfolg dasselbe
entwaffnete.

Die Finanzen behandelte Cavour mit vorsichtiger und sparsamer Hand,
so lange der allgemeine europäische Friedensstand die Heilung der in den
letzten Jahren erlittenen Wunden Sardiniens und die Wiederherstellung seiner
Kräfte, in die erste Reihe der Aufgaben der Turiner Regierung stellte. Eine
ähnliche Selbstbeschränkung glaubte er von der Gesetzgebung auch auf dem
freiheitlichen Gebiete verlangen zu müssen, als der Pariser Staatsstreich vom
2. Dezember die europäische Reaction vollends in den Sattel gehoben und
dem vereinsamten liberalen Sardinien wenn nicht Zugeständnisse an die
Macht des Tages, so doch wenigstens eine gewisse Schonung derselben zur
Pflicht der Selbsterhaltung zu machen schien. Wie damals die deutsche Pre߬
polizei den französischen Hochverräther vom 2. Dez. unter ihren Schutz nehmen
zu sollen glaubte, so, wiewohl aus andern Gründen, die sardinische Regie¬
rungspolitik. Um auch in Italien den überschäumenden Haß gegen Louis
Bonaparte in gewissen Grenzen des Ausdrucks zu halten, beantragte das Tu¬
riner Ministerium, die gegen ein auswärtiges Staatsoberhaupt gerichteten
Preßvergehen der Zuständigkeit der Geschwornen zu entziehen und an die ge¬
wöhnlichen Gerichte zu verweisen. Cavour übernahm das schwierige Amt.
den zu diesem Zwecke von ihm selbst ausgearbeiteten Gesetzesvorschlag auch in
der Kammer zu vertreten. Nach heißem parlamentarischem Kampfe siegte Cavour
mit dem unerwarteten Beistand Ratazzi's, dem er bald darauf seine Dank¬
barkeit bezeigte, indem er ihn bei der Bewerbung um den Vorsitz in der
Kammer erfolgreich unterstützte. Diese Annäherung an den Mann, der
nachträglich als der Urheber des unzeitigen zweiten Krieges mit Oesterreich
bitter angefeindet, insbesondere für die Niederlage bei Novara verantwortlich
gemacht wurde, und überdies immer noch für einen übertriebenen Revolutio¬
när galt, verfeindete Cavour mit einem Theile seiner parlamentarischen Partei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/140>, abgerufen am 28.05.2024.