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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Polen und Elsässer werden vollzählig auf ihrem Platze sein, wenn der geheime
Kriegsruf der ultramontanen Fehdegenossen an sie ergeht. Wehe uns dann,
wenn das Lager der Freunde des Reichs verlassen ist. Die dreifache Lesung
bildet nicht in allen Fällen eine sichere Brustwehr. Ja, größer als jemals
ist die Gefahr einer parlamentarischen Ueberrumpelung durch die Reichsfeinde
geworden, seitdem die freie Fahrt der Abgeordneten Thatfache wurde. Denn
das ist unleugbar nach den bisherigen Erfahrungen und Abstimmungslisten:
daß durchschnittlich der Abgeordnete um so weniger seine parlamentarischen
Pflichten zu erfüllen gewohnt war, je näher sein Wohnort bei Berlin lag,
je leichter ihm die Rückkehr in die Heimath während der Session wurde.
Nun bietet die freie Fahrt Allen die gleiche Möglichkeit, die Heimath auch
während der Sitzungsdauer des Reichstags wiederholt aufzusuchen, und je
weiter diese Heimath von Berlin entlegen ist, um so länger wird der Abge"
ordnete unter den Seinen zu verweilen trachten, um so ungewisser wird sein
Eintreffen zur rechten Stunde in Berlin sein. Es kann also nicht ernstlich
genug auf die Erfüllung der parlamentarischen Pflichten verwiesen werden.
Daneben darf unsres Erachtens die reichstreue Majorität in dieser Legisla¬
turperiode nicht daran denken, die Beschlußfähigkeitsziffer herabzusetzen, um sich
unter allen Umständen das Correctiv vorzubehalten, durch Herbeiführung der
Beschlußunfähigkeit des Hauses die von den Reichsfeinden geplante Ueber¬
rumpelung im einzelnen Falle zu vereiteln.

Die andere, sehr lästige Zugabe in die Siegesfreude der jüngsten Reichs¬
tagswahlen ist das absolute Erstarken der Ultramontanen und Socialisten.
Gegenüber den vermessenen Reden und Weissagungen, mit denen beide Par¬
teien den Wahlgang betreten, ist allerdings ihre Ausbeute an Abgeordneten
eine lächerlich geringfügige. Aber relativ, gegen die Wahlen von 1871 hat
doch das schwarze Centrum circa 30, die Socialdemokratie beiderlei Gestalt
9 Sitze gewonnen. Und wenn wir allein berücksichtigen, daß aus Baiern 32
Ultramontane, aus Sachsen 6 Socialdemokraten anrücken, und mit diesem
Zuschuß die Wahllisten von 1871 vergleichen, so ist es unleugbar, daß nicht
sowohl zweifelhafte conservative -- wie sanguinische Wahlstatistiker uns glauben
machen wollen -- sondern nationale und liberale Abgeordnete durch diese
Sorte von Howimzs ovvi verdrängt worden sind. Dieselbe Ausbreitung der
ultramontanen Propaganda wie in Baiern, läßt sich leider in manchem Wahl¬
kreise Rheinlands, Westphalens, Schlesiens, nicht verkennen, während die Hie-
rophanten Bebel's und Lassalle's inzwischen auch in Hamburg und Altona in
ausschlaggebenden Massen sich angefunden haben. --

Woher kommt diese auffallende Thatsache, drei Jahre nach dem glor¬
reichsten und glücklichsten Kriege, den Deutschland geführt hat, in einem
Augenblicke, wo klarer als jemals dem Wähler vor Augen geführt wurde,


Polen und Elsässer werden vollzählig auf ihrem Platze sein, wenn der geheime
Kriegsruf der ultramontanen Fehdegenossen an sie ergeht. Wehe uns dann,
wenn das Lager der Freunde des Reichs verlassen ist. Die dreifache Lesung
bildet nicht in allen Fällen eine sichere Brustwehr. Ja, größer als jemals
ist die Gefahr einer parlamentarischen Ueberrumpelung durch die Reichsfeinde
geworden, seitdem die freie Fahrt der Abgeordneten Thatfache wurde. Denn
das ist unleugbar nach den bisherigen Erfahrungen und Abstimmungslisten:
daß durchschnittlich der Abgeordnete um so weniger seine parlamentarischen
Pflichten zu erfüllen gewohnt war, je näher sein Wohnort bei Berlin lag,
je leichter ihm die Rückkehr in die Heimath während der Session wurde.
Nun bietet die freie Fahrt Allen die gleiche Möglichkeit, die Heimath auch
während der Sitzungsdauer des Reichstags wiederholt aufzusuchen, und je
weiter diese Heimath von Berlin entlegen ist, um so länger wird der Abge«
ordnete unter den Seinen zu verweilen trachten, um so ungewisser wird sein
Eintreffen zur rechten Stunde in Berlin sein. Es kann also nicht ernstlich
genug auf die Erfüllung der parlamentarischen Pflichten verwiesen werden.
Daneben darf unsres Erachtens die reichstreue Majorität in dieser Legisla¬
turperiode nicht daran denken, die Beschlußfähigkeitsziffer herabzusetzen, um sich
unter allen Umständen das Correctiv vorzubehalten, durch Herbeiführung der
Beschlußunfähigkeit des Hauses die von den Reichsfeinden geplante Ueber¬
rumpelung im einzelnen Falle zu vereiteln.

Die andere, sehr lästige Zugabe in die Siegesfreude der jüngsten Reichs¬
tagswahlen ist das absolute Erstarken der Ultramontanen und Socialisten.
Gegenüber den vermessenen Reden und Weissagungen, mit denen beide Par¬
teien den Wahlgang betreten, ist allerdings ihre Ausbeute an Abgeordneten
eine lächerlich geringfügige. Aber relativ, gegen die Wahlen von 1871 hat
doch das schwarze Centrum circa 30, die Socialdemokratie beiderlei Gestalt
9 Sitze gewonnen. Und wenn wir allein berücksichtigen, daß aus Baiern 32
Ultramontane, aus Sachsen 6 Socialdemokraten anrücken, und mit diesem
Zuschuß die Wahllisten von 1871 vergleichen, so ist es unleugbar, daß nicht
sowohl zweifelhafte conservative — wie sanguinische Wahlstatistiker uns glauben
machen wollen — sondern nationale und liberale Abgeordnete durch diese
Sorte von Howimzs ovvi verdrängt worden sind. Dieselbe Ausbreitung der
ultramontanen Propaganda wie in Baiern, läßt sich leider in manchem Wahl¬
kreise Rheinlands, Westphalens, Schlesiens, nicht verkennen, während die Hie-
rophanten Bebel's und Lassalle's inzwischen auch in Hamburg und Altona in
ausschlaggebenden Massen sich angefunden haben. —

Woher kommt diese auffallende Thatsache, drei Jahre nach dem glor¬
reichsten und glücklichsten Kriege, den Deutschland geführt hat, in einem
Augenblicke, wo klarer als jemals dem Wähler vor Augen geführt wurde,


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[0161] Polen und Elsässer werden vollzählig auf ihrem Platze sein, wenn der geheime Kriegsruf der ultramontanen Fehdegenossen an sie ergeht. Wehe uns dann, wenn das Lager der Freunde des Reichs verlassen ist. Die dreifache Lesung bildet nicht in allen Fällen eine sichere Brustwehr. Ja, größer als jemals ist die Gefahr einer parlamentarischen Ueberrumpelung durch die Reichsfeinde geworden, seitdem die freie Fahrt der Abgeordneten Thatfache wurde. Denn das ist unleugbar nach den bisherigen Erfahrungen und Abstimmungslisten: daß durchschnittlich der Abgeordnete um so weniger seine parlamentarischen Pflichten zu erfüllen gewohnt war, je näher sein Wohnort bei Berlin lag, je leichter ihm die Rückkehr in die Heimath während der Session wurde. Nun bietet die freie Fahrt Allen die gleiche Möglichkeit, die Heimath auch während der Sitzungsdauer des Reichstags wiederholt aufzusuchen, und je weiter diese Heimath von Berlin entlegen ist, um so länger wird der Abge« ordnete unter den Seinen zu verweilen trachten, um so ungewisser wird sein Eintreffen zur rechten Stunde in Berlin sein. Es kann also nicht ernstlich genug auf die Erfüllung der parlamentarischen Pflichten verwiesen werden. Daneben darf unsres Erachtens die reichstreue Majorität in dieser Legisla¬ turperiode nicht daran denken, die Beschlußfähigkeitsziffer herabzusetzen, um sich unter allen Umständen das Correctiv vorzubehalten, durch Herbeiführung der Beschlußunfähigkeit des Hauses die von den Reichsfeinden geplante Ueber¬ rumpelung im einzelnen Falle zu vereiteln. Die andere, sehr lästige Zugabe in die Siegesfreude der jüngsten Reichs¬ tagswahlen ist das absolute Erstarken der Ultramontanen und Socialisten. Gegenüber den vermessenen Reden und Weissagungen, mit denen beide Par¬ teien den Wahlgang betreten, ist allerdings ihre Ausbeute an Abgeordneten eine lächerlich geringfügige. Aber relativ, gegen die Wahlen von 1871 hat doch das schwarze Centrum circa 30, die Socialdemokratie beiderlei Gestalt 9 Sitze gewonnen. Und wenn wir allein berücksichtigen, daß aus Baiern 32 Ultramontane, aus Sachsen 6 Socialdemokraten anrücken, und mit diesem Zuschuß die Wahllisten von 1871 vergleichen, so ist es unleugbar, daß nicht sowohl zweifelhafte conservative — wie sanguinische Wahlstatistiker uns glauben machen wollen — sondern nationale und liberale Abgeordnete durch diese Sorte von Howimzs ovvi verdrängt worden sind. Dieselbe Ausbreitung der ultramontanen Propaganda wie in Baiern, läßt sich leider in manchem Wahl¬ kreise Rheinlands, Westphalens, Schlesiens, nicht verkennen, während die Hie- rophanten Bebel's und Lassalle's inzwischen auch in Hamburg und Altona in ausschlaggebenden Massen sich angefunden haben. — Woher kommt diese auffallende Thatsache, drei Jahre nach dem glor¬ reichsten und glücklichsten Kriege, den Deutschland geführt hat, in einem Augenblicke, wo klarer als jemals dem Wähler vor Augen geführt wurde,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/161>, abgerufen am 12.05.2024.