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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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die Schamröthe ins Angesicht treiben sollte. Und um so widerwärtiger ist
das Schauspiel, wenn dann unser Bürgerthum sich in kopflosen Klagen er¬
geht über das Emporwuchern der Socialdemokratie, wenn es auf Modifica-
tionen des Wahlrechts sinnt und sogar im Stillen bereits an die staatliche
Gesellschaftsrettung denkt. Ist so das Geschlecht geartet, welches Selbsthülfe
und Selbstverwaltung auf seine Fahne schrieb? Gewiß, der Socialismus
hat in Berlin bedeutend an Boden gewonnen und nicht in der Macht des
Bürgerthums hätte es gestanden, ihn daran zu verhindern. Wohl aber hätte
man verhindern können und müssen, daß seine Bedeutung außerordentlich
viel größer erscheint, als sie in den thatsächlichen Verhältnissen begründet ist.
Wie wäre es möglich gewesen, daß der Lassalleaner Hasenclever gegen den
gefeierten Volksmann Schulze - Delitzsch hätte in die engere Wahl gelangen
können, wenn von den 28,260 Wahlberechtigten, statt 8200, nur die Hälfte
an der Urne erschienen wäre! Und wie viel ungefährlicher würde sich die
Hasenclever'sche Garde von 9000 Mann ausnehmen, wenn ihr von den übri¬
gen 120.000 Wählern Berlins nur 80 -- 90,000 gegenübergetreten wären,
statt höchstens 35.000? Wahrhaftig, nicht das allgemeine und directe Wahl¬
recht soll man anklagen, sondern den Mangel an politischem Pflichtbewußt¬
sein, ja an politischem Muth, der in der Hauptstadt eingerissen ist. Denn
neben Jenen, welche die Ausübung ihres Wahlrechts aus Gedankenlosigkeit
oder Trägheit versäumen, existirt in Berlin eine ungeheure Menge Solcher,
die nicht wagen, einen Candidaten ihrer eigenen Richtung aufzustellen, aus
Furcht vor der "Blamage". Leider ist es kaum zu leugnende Thatsache, daß
in dieser Rubrik am zahlreichsten die Bekenner der nationalliberalen Anschau¬
ung vertreten sind. Die Erfahrung vom 10. Januar muß sie von der Noth¬
wendigkeit überzeugt haben, sich endlich ihrerseits zu organisiren. Hoffen wir
daß dieser Ueberzeugung nun auch einmal die That folgt!

Doch nicht für Berlin allein, für die reichsfreundlichen Männer ganz
Deutschlands ist der Ausfall der Wahlen eine ernste Mahnung. So wacker
auch in den meisten Theilen des Reichs gekämpft worden ist, die nationale
Sache ist im Ganzen nicht gestärkt, sondern eher geschwächt aus dieser Probe
hervorgegangen. Bis zu einem gewissen Grade war dieser Ausgang vorher¬
zusehen. Es fehlte die frische Begeisterung, welche vor drei Jahren unter dem
Eindrucke des soeben siegreich beendeten Krieges die Gemüther ^beseelte; die
durch den Kirchenconflikt genährte Agitation der Ultramontanen konnte unter
der katholischen Landbevölkerung nicht ohne Wirkung bleiben; auch das
Wachsthum der Socialdemokratie war kein Geheimniß. Aber die Erfolge der
Gegner haben bei weitem die Erwartungen übertroffen. Heilige Pflicht der
nationalen Parteien ist jetzt, dafür zu sorgen, daß die reichsfeindlichen Be¬
strebungen die jetzt erreichte Grenze nicht weiter überschreiten.


die Schamröthe ins Angesicht treiben sollte. Und um so widerwärtiger ist
das Schauspiel, wenn dann unser Bürgerthum sich in kopflosen Klagen er¬
geht über das Emporwuchern der Socialdemokratie, wenn es auf Modifica-
tionen des Wahlrechts sinnt und sogar im Stillen bereits an die staatliche
Gesellschaftsrettung denkt. Ist so das Geschlecht geartet, welches Selbsthülfe
und Selbstverwaltung auf seine Fahne schrieb? Gewiß, der Socialismus
hat in Berlin bedeutend an Boden gewonnen und nicht in der Macht des
Bürgerthums hätte es gestanden, ihn daran zu verhindern. Wohl aber hätte
man verhindern können und müssen, daß seine Bedeutung außerordentlich
viel größer erscheint, als sie in den thatsächlichen Verhältnissen begründet ist.
Wie wäre es möglich gewesen, daß der Lassalleaner Hasenclever gegen den
gefeierten Volksmann Schulze - Delitzsch hätte in die engere Wahl gelangen
können, wenn von den 28,260 Wahlberechtigten, statt 8200, nur die Hälfte
an der Urne erschienen wäre! Und wie viel ungefährlicher würde sich die
Hasenclever'sche Garde von 9000 Mann ausnehmen, wenn ihr von den übri¬
gen 120.000 Wählern Berlins nur 80 — 90,000 gegenübergetreten wären,
statt höchstens 35.000? Wahrhaftig, nicht das allgemeine und directe Wahl¬
recht soll man anklagen, sondern den Mangel an politischem Pflichtbewußt¬
sein, ja an politischem Muth, der in der Hauptstadt eingerissen ist. Denn
neben Jenen, welche die Ausübung ihres Wahlrechts aus Gedankenlosigkeit
oder Trägheit versäumen, existirt in Berlin eine ungeheure Menge Solcher,
die nicht wagen, einen Candidaten ihrer eigenen Richtung aufzustellen, aus
Furcht vor der „Blamage". Leider ist es kaum zu leugnende Thatsache, daß
in dieser Rubrik am zahlreichsten die Bekenner der nationalliberalen Anschau¬
ung vertreten sind. Die Erfahrung vom 10. Januar muß sie von der Noth¬
wendigkeit überzeugt haben, sich endlich ihrerseits zu organisiren. Hoffen wir
daß dieser Ueberzeugung nun auch einmal die That folgt!

Doch nicht für Berlin allein, für die reichsfreundlichen Männer ganz
Deutschlands ist der Ausfall der Wahlen eine ernste Mahnung. So wacker
auch in den meisten Theilen des Reichs gekämpft worden ist, die nationale
Sache ist im Ganzen nicht gestärkt, sondern eher geschwächt aus dieser Probe
hervorgegangen. Bis zu einem gewissen Grade war dieser Ausgang vorher¬
zusehen. Es fehlte die frische Begeisterung, welche vor drei Jahren unter dem
Eindrucke des soeben siegreich beendeten Krieges die Gemüther ^beseelte; die
durch den Kirchenconflikt genährte Agitation der Ultramontanen konnte unter
der katholischen Landbevölkerung nicht ohne Wirkung bleiben; auch das
Wachsthum der Socialdemokratie war kein Geheimniß. Aber die Erfolge der
Gegner haben bei weitem die Erwartungen übertroffen. Heilige Pflicht der
nationalen Parteien ist jetzt, dafür zu sorgen, daß die reichsfeindlichen Be¬
strebungen die jetzt erreichte Grenze nicht weiter überschreiten.


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[0163] die Schamröthe ins Angesicht treiben sollte. Und um so widerwärtiger ist das Schauspiel, wenn dann unser Bürgerthum sich in kopflosen Klagen er¬ geht über das Emporwuchern der Socialdemokratie, wenn es auf Modifica- tionen des Wahlrechts sinnt und sogar im Stillen bereits an die staatliche Gesellschaftsrettung denkt. Ist so das Geschlecht geartet, welches Selbsthülfe und Selbstverwaltung auf seine Fahne schrieb? Gewiß, der Socialismus hat in Berlin bedeutend an Boden gewonnen und nicht in der Macht des Bürgerthums hätte es gestanden, ihn daran zu verhindern. Wohl aber hätte man verhindern können und müssen, daß seine Bedeutung außerordentlich viel größer erscheint, als sie in den thatsächlichen Verhältnissen begründet ist. Wie wäre es möglich gewesen, daß der Lassalleaner Hasenclever gegen den gefeierten Volksmann Schulze - Delitzsch hätte in die engere Wahl gelangen können, wenn von den 28,260 Wahlberechtigten, statt 8200, nur die Hälfte an der Urne erschienen wäre! Und wie viel ungefährlicher würde sich die Hasenclever'sche Garde von 9000 Mann ausnehmen, wenn ihr von den übri¬ gen 120.000 Wählern Berlins nur 80 — 90,000 gegenübergetreten wären, statt höchstens 35.000? Wahrhaftig, nicht das allgemeine und directe Wahl¬ recht soll man anklagen, sondern den Mangel an politischem Pflichtbewußt¬ sein, ja an politischem Muth, der in der Hauptstadt eingerissen ist. Denn neben Jenen, welche die Ausübung ihres Wahlrechts aus Gedankenlosigkeit oder Trägheit versäumen, existirt in Berlin eine ungeheure Menge Solcher, die nicht wagen, einen Candidaten ihrer eigenen Richtung aufzustellen, aus Furcht vor der „Blamage". Leider ist es kaum zu leugnende Thatsache, daß in dieser Rubrik am zahlreichsten die Bekenner der nationalliberalen Anschau¬ ung vertreten sind. Die Erfahrung vom 10. Januar muß sie von der Noth¬ wendigkeit überzeugt haben, sich endlich ihrerseits zu organisiren. Hoffen wir daß dieser Ueberzeugung nun auch einmal die That folgt! Doch nicht für Berlin allein, für die reichsfreundlichen Männer ganz Deutschlands ist der Ausfall der Wahlen eine ernste Mahnung. So wacker auch in den meisten Theilen des Reichs gekämpft worden ist, die nationale Sache ist im Ganzen nicht gestärkt, sondern eher geschwächt aus dieser Probe hervorgegangen. Bis zu einem gewissen Grade war dieser Ausgang vorher¬ zusehen. Es fehlte die frische Begeisterung, welche vor drei Jahren unter dem Eindrucke des soeben siegreich beendeten Krieges die Gemüther ^beseelte; die durch den Kirchenconflikt genährte Agitation der Ultramontanen konnte unter der katholischen Landbevölkerung nicht ohne Wirkung bleiben; auch das Wachsthum der Socialdemokratie war kein Geheimniß. Aber die Erfolge der Gegner haben bei weitem die Erwartungen übertroffen. Heilige Pflicht der nationalen Parteien ist jetzt, dafür zu sorgen, daß die reichsfeindlichen Be¬ strebungen die jetzt erreichte Grenze nicht weiter überschreiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/163>, abgerufen am 13.05.2024.