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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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sammeln, zu ordnen und zu vergleichen, was sich auf die Thiere in den Sagen
der arischen Völker bezieht, denn hier ließ sich eine großartige Ausbeute hoffen.
Unsre europäische wie iranische und die indische Mythologie ist ja ganz erfüllt
mit Thiergestalten, und der Knabe, der eben eingeführt wird in das Leben der
alten Griechen und Römer, sieht sich sofort umringt von einer ganzen Galerie
zoologischer Gestalten, er wird, wenn hier der Ausdruck erlaubt ist, in eine
mythologische Menagerie versetzt.

Der Adler des Zeus und die Eule der Athene, die Rosse des Achilleus
und des Poseidon, der Esel des Silenos und die Eselsohren des Midas,
der Eber in den Geschichten von Atys, Adonis, Meleagros und Odysseus. der
furchtbare Minotaur in der Theseusmythe -- das alles sind wohlbekannte
Thiergestalten. In der That sind uns nur wenige Sagen des Alterthums
überliefert worden, in denen Thiere nicht eine Rolle spielen. Apollo nimmt
die Gestalt eines Delphins an, Zeus entführt als Stier die Europa, Leda
genießt die Liebe des Schwans; Schlangen und Drachen treten uns überall
entgegen, in den Mythen von Phöbus, Radnos. Herkules. Dionysos vermag
sich in einen Bären oder Löwen zu verwandeln; Lykaon wird wider seinen
Willen in einen Wolf umgestaltet, Arachne in eine Spinne, Philomela in
eine Nachtigall, Prokne in eine Schwalbe. Der goldne Widder entführt
Phrixos und Helle aus dem Lande des Athamas, der Cerberus hütet die
Pforten des Hades. Wir finden Gestalten, die halb Mensch, halb Thier
sind, wie die Centauren; Apollo und Athene erscheinen als Krähen, Talaos
als Rebhuhn.

So aber wie hier in der griechischen Mythe, geschieht es auch bei den
übrigen indogermanischen Völkern: Thiere, Vögel, Schlangen, Insekten spielen
überall eine große Rolle, bilden eine Welt für sich, sind mit übernatürlichen
Kräften begabt, sei es der Drache, sei es die Kröte. Wundergestalt reiht sich
an Wundergestalt, scheinbar Ungereimtes an Ungereimtes -- aber die Toll¬
heit kehrt bei allen Völkern wieder und darum liegt Methode darin. Diese
Methode nun ist es, die Professor Gubernatis erforscht hat. Daß eine For¬
schung, die das weite Gebiet von den Gestaden des heiligen, unter Palmen da"
hinrauschenden Ganges bis zu den eisumstarrten Küsten Islands umfaßt,
nur von einem vielseitig gebildeten Gelehrten durchgeführt werden kann, liegt
auf der Hand. Und ein solcher ist der Verfasser, der sein Werk englisch
schreibt, Italiener von Geburt ist und in der deutschen Literatur bewandert
erscheint wie ein deutscher Professor. Ein Blick in die Anmerkungen schon
zeigt uns, wie er studirt hat. und wie er den gewaltigen Stoff beherrscht.

Gubernatis theilt sein Werk in drei Theile. Für seine Zwecke bedarf es
einer systematisch-zoologischen Eintheilung nicht, sondern er behandelt Land¬
thiere, Luftthiere und Wasserthiere, indem er mit Kuh und Stier beginnt,


sammeln, zu ordnen und zu vergleichen, was sich auf die Thiere in den Sagen
der arischen Völker bezieht, denn hier ließ sich eine großartige Ausbeute hoffen.
Unsre europäische wie iranische und die indische Mythologie ist ja ganz erfüllt
mit Thiergestalten, und der Knabe, der eben eingeführt wird in das Leben der
alten Griechen und Römer, sieht sich sofort umringt von einer ganzen Galerie
zoologischer Gestalten, er wird, wenn hier der Ausdruck erlaubt ist, in eine
mythologische Menagerie versetzt.

Der Adler des Zeus und die Eule der Athene, die Rosse des Achilleus
und des Poseidon, der Esel des Silenos und die Eselsohren des Midas,
der Eber in den Geschichten von Atys, Adonis, Meleagros und Odysseus. der
furchtbare Minotaur in der Theseusmythe — das alles sind wohlbekannte
Thiergestalten. In der That sind uns nur wenige Sagen des Alterthums
überliefert worden, in denen Thiere nicht eine Rolle spielen. Apollo nimmt
die Gestalt eines Delphins an, Zeus entführt als Stier die Europa, Leda
genießt die Liebe des Schwans; Schlangen und Drachen treten uns überall
entgegen, in den Mythen von Phöbus, Radnos. Herkules. Dionysos vermag
sich in einen Bären oder Löwen zu verwandeln; Lykaon wird wider seinen
Willen in einen Wolf umgestaltet, Arachne in eine Spinne, Philomela in
eine Nachtigall, Prokne in eine Schwalbe. Der goldne Widder entführt
Phrixos und Helle aus dem Lande des Athamas, der Cerberus hütet die
Pforten des Hades. Wir finden Gestalten, die halb Mensch, halb Thier
sind, wie die Centauren; Apollo und Athene erscheinen als Krähen, Talaos
als Rebhuhn.

So aber wie hier in der griechischen Mythe, geschieht es auch bei den
übrigen indogermanischen Völkern: Thiere, Vögel, Schlangen, Insekten spielen
überall eine große Rolle, bilden eine Welt für sich, sind mit übernatürlichen
Kräften begabt, sei es der Drache, sei es die Kröte. Wundergestalt reiht sich
an Wundergestalt, scheinbar Ungereimtes an Ungereimtes — aber die Toll¬
heit kehrt bei allen Völkern wieder und darum liegt Methode darin. Diese
Methode nun ist es, die Professor Gubernatis erforscht hat. Daß eine For¬
schung, die das weite Gebiet von den Gestaden des heiligen, unter Palmen da«
hinrauschenden Ganges bis zu den eisumstarrten Küsten Islands umfaßt,
nur von einem vielseitig gebildeten Gelehrten durchgeführt werden kann, liegt
auf der Hand. Und ein solcher ist der Verfasser, der sein Werk englisch
schreibt, Italiener von Geburt ist und in der deutschen Literatur bewandert
erscheint wie ein deutscher Professor. Ein Blick in die Anmerkungen schon
zeigt uns, wie er studirt hat. und wie er den gewaltigen Stoff beherrscht.

Gubernatis theilt sein Werk in drei Theile. Für seine Zwecke bedarf es
einer systematisch-zoologischen Eintheilung nicht, sondern er behandelt Land¬
thiere, Luftthiere und Wasserthiere, indem er mit Kuh und Stier beginnt,


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[0217] sammeln, zu ordnen und zu vergleichen, was sich auf die Thiere in den Sagen der arischen Völker bezieht, denn hier ließ sich eine großartige Ausbeute hoffen. Unsre europäische wie iranische und die indische Mythologie ist ja ganz erfüllt mit Thiergestalten, und der Knabe, der eben eingeführt wird in das Leben der alten Griechen und Römer, sieht sich sofort umringt von einer ganzen Galerie zoologischer Gestalten, er wird, wenn hier der Ausdruck erlaubt ist, in eine mythologische Menagerie versetzt. Der Adler des Zeus und die Eule der Athene, die Rosse des Achilleus und des Poseidon, der Esel des Silenos und die Eselsohren des Midas, der Eber in den Geschichten von Atys, Adonis, Meleagros und Odysseus. der furchtbare Minotaur in der Theseusmythe — das alles sind wohlbekannte Thiergestalten. In der That sind uns nur wenige Sagen des Alterthums überliefert worden, in denen Thiere nicht eine Rolle spielen. Apollo nimmt die Gestalt eines Delphins an, Zeus entführt als Stier die Europa, Leda genießt die Liebe des Schwans; Schlangen und Drachen treten uns überall entgegen, in den Mythen von Phöbus, Radnos. Herkules. Dionysos vermag sich in einen Bären oder Löwen zu verwandeln; Lykaon wird wider seinen Willen in einen Wolf umgestaltet, Arachne in eine Spinne, Philomela in eine Nachtigall, Prokne in eine Schwalbe. Der goldne Widder entführt Phrixos und Helle aus dem Lande des Athamas, der Cerberus hütet die Pforten des Hades. Wir finden Gestalten, die halb Mensch, halb Thier sind, wie die Centauren; Apollo und Athene erscheinen als Krähen, Talaos als Rebhuhn. So aber wie hier in der griechischen Mythe, geschieht es auch bei den übrigen indogermanischen Völkern: Thiere, Vögel, Schlangen, Insekten spielen überall eine große Rolle, bilden eine Welt für sich, sind mit übernatürlichen Kräften begabt, sei es der Drache, sei es die Kröte. Wundergestalt reiht sich an Wundergestalt, scheinbar Ungereimtes an Ungereimtes — aber die Toll¬ heit kehrt bei allen Völkern wieder und darum liegt Methode darin. Diese Methode nun ist es, die Professor Gubernatis erforscht hat. Daß eine For¬ schung, die das weite Gebiet von den Gestaden des heiligen, unter Palmen da« hinrauschenden Ganges bis zu den eisumstarrten Küsten Islands umfaßt, nur von einem vielseitig gebildeten Gelehrten durchgeführt werden kann, liegt auf der Hand. Und ein solcher ist der Verfasser, der sein Werk englisch schreibt, Italiener von Geburt ist und in der deutschen Literatur bewandert erscheint wie ein deutscher Professor. Ein Blick in die Anmerkungen schon zeigt uns, wie er studirt hat. und wie er den gewaltigen Stoff beherrscht. Gubernatis theilt sein Werk in drei Theile. Für seine Zwecke bedarf es einer systematisch-zoologischen Eintheilung nicht, sondern er behandelt Land¬ thiere, Luftthiere und Wasserthiere, indem er mit Kuh und Stier beginnt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/217>, abgerufen am 12.05.2024.