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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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streuungen vernichtet, sondern durch das naturgemäße Hervorbrechen eines
noch ungebeugten, urwüchsigen Humors in wohlthuendster Weise abgedämpft,
sodaß diese Scenen einen wirklich poetisch - ergreifenden Eindruck machen. Nur
eine Scene -- sie spielt in dem Restaurant der Kaisergallerie -- ist ganz
mißrathen. Dagegen sind wieder die Couplets -- dieser so unorganisch an¬
gehängte , aber längst als charakteristische Eigenthümlichkeit unvermeidlich ge¬
wordene Bestandtheil der Posse -- im Ganzen gelungen, zuweilen recht witzig,
und vor Allem frei von verletzenden Cynismus. Daß die Darstellung des
Stücks eine im Allgemeinen tadellose ist, bedarf gegenüber einer Bühne, die
sich in der Posse ihren alten Ruf eines vortrefflichen Ensembles stets bewahrt
hat, kaum der Erwähnung.

Aber warum überhaupt dieser eingehende Bericht über ein "Volksstück"?
Weil, wie mir dünkt, ein Stück einen solchen verdient, welches uns nach der em¬
pörenden Unnatur gewisser deutscher "Schauspiele" und dem niederdrückenden
Schmutz französischer Ehebruchsdramen endlich einmal wieder frisch ausathmen
läßt in der Atmosphäre einer unverfälschten Volksthümlichkeit. Das Wallner¬
theater ist vielleicht von sämmtlichen zwanzig und einigen Berliner Bühnen
diejenige, welche auf unser Volksleben den meisten Einfluß hat; darum ist
doppelt erfreulich, daß es durch eine gesunde Posse von der auch von ihm
betretenen Bahn der Darstellung sittlich verfaulter französischer Machwerke
-- wollte Gott für immer! -- abgelenkt wird. Werden doch diese Pfade
ohnehin von verschiedenen anderen Theatern bis zum Ekel ausgetreten! ja,
werden wir doch vom 1. Januar an gewürdigt werden, im Concertsaal des
königl. Schauspielhauses von leibhaftigen Kindern der großen Nation die
neuesten Früchte der Civilisation präsentirt zu erhalten! Da sollte eine ehr¬
liche deutsche Volksbühne getrost bei ihrem Leisten bleiben!

Neben dem Wallnertheater ist zur Zeit der wirksamste theatralische An¬
ziehungspunkt das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater. Bekanntlich sucht diese
Bühne ihre Specialität darin, uns mit der Muse Offenbach's und seiner
Jünger bekannt zu machen. Gegenwärtig gibt sie seit mindestens einem Mo¬
nat allabendlich und unter großem Zulauf des Publikums eine komische
Oper von Lecoq, "Mamsell Angot, die Tochter der Halle" betitelt. Das
Stück ist in Paris unzählige Male und mit ganz außergewöhnlichem Erfolge
wiederholt worden. Begreiflich genug; denn 1) ist schon die bloße Scenerie
der "Halle" mit ihren merkwürdigen Erinnerungen für die Pariser von un¬
widerstehlicher Gewalt, und 2) wagt sich hier, wenn auch nur schüchtern, die
unter dem Kaiserreich so streng verpönte politische Satire ans Licht, die, ob-
schon das Stück unter dem Directorium spielt, es an Anspielungen auf die
Gegenwart nicht fehlen läßt. Für unser Publikum sind beide Punkte ziemlich
irrelevant. Die Anziehungskraft, welche die Oper hier ausübt, ist leider in


Grenjboten 1. 1874. 4

streuungen vernichtet, sondern durch das naturgemäße Hervorbrechen eines
noch ungebeugten, urwüchsigen Humors in wohlthuendster Weise abgedämpft,
sodaß diese Scenen einen wirklich poetisch - ergreifenden Eindruck machen. Nur
eine Scene — sie spielt in dem Restaurant der Kaisergallerie — ist ganz
mißrathen. Dagegen sind wieder die Couplets — dieser so unorganisch an¬
gehängte , aber längst als charakteristische Eigenthümlichkeit unvermeidlich ge¬
wordene Bestandtheil der Posse — im Ganzen gelungen, zuweilen recht witzig,
und vor Allem frei von verletzenden Cynismus. Daß die Darstellung des
Stücks eine im Allgemeinen tadellose ist, bedarf gegenüber einer Bühne, die
sich in der Posse ihren alten Ruf eines vortrefflichen Ensembles stets bewahrt
hat, kaum der Erwähnung.

Aber warum überhaupt dieser eingehende Bericht über ein „Volksstück"?
Weil, wie mir dünkt, ein Stück einen solchen verdient, welches uns nach der em¬
pörenden Unnatur gewisser deutscher „Schauspiele" und dem niederdrückenden
Schmutz französischer Ehebruchsdramen endlich einmal wieder frisch ausathmen
läßt in der Atmosphäre einer unverfälschten Volksthümlichkeit. Das Wallner¬
theater ist vielleicht von sämmtlichen zwanzig und einigen Berliner Bühnen
diejenige, welche auf unser Volksleben den meisten Einfluß hat; darum ist
doppelt erfreulich, daß es durch eine gesunde Posse von der auch von ihm
betretenen Bahn der Darstellung sittlich verfaulter französischer Machwerke
— wollte Gott für immer! — abgelenkt wird. Werden doch diese Pfade
ohnehin von verschiedenen anderen Theatern bis zum Ekel ausgetreten! ja,
werden wir doch vom 1. Januar an gewürdigt werden, im Concertsaal des
königl. Schauspielhauses von leibhaftigen Kindern der großen Nation die
neuesten Früchte der Civilisation präsentirt zu erhalten! Da sollte eine ehr¬
liche deutsche Volksbühne getrost bei ihrem Leisten bleiben!

Neben dem Wallnertheater ist zur Zeit der wirksamste theatralische An¬
ziehungspunkt das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater. Bekanntlich sucht diese
Bühne ihre Specialität darin, uns mit der Muse Offenbach's und seiner
Jünger bekannt zu machen. Gegenwärtig gibt sie seit mindestens einem Mo¬
nat allabendlich und unter großem Zulauf des Publikums eine komische
Oper von Lecoq, „Mamsell Angot, die Tochter der Halle" betitelt. Das
Stück ist in Paris unzählige Male und mit ganz außergewöhnlichem Erfolge
wiederholt worden. Begreiflich genug; denn 1) ist schon die bloße Scenerie
der „Halle" mit ihren merkwürdigen Erinnerungen für die Pariser von un¬
widerstehlicher Gewalt, und 2) wagt sich hier, wenn auch nur schüchtern, die
unter dem Kaiserreich so streng verpönte politische Satire ans Licht, die, ob-
schon das Stück unter dem Directorium spielt, es an Anspielungen auf die
Gegenwart nicht fehlen läßt. Für unser Publikum sind beide Punkte ziemlich
irrelevant. Die Anziehungskraft, welche die Oper hier ausübt, ist leider in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/31>, abgerufen am 12.05.2024.