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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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denztheaters selbst kann nur mit Achtung gesprochen werden. Die unmittel¬
bare Nähe des Wallnertheaters macht ihm -- es hat die Räume des alten
Wallnertheaters inne -- das Leben doppelt schwer. In dieser Concurrenz
hat es sich aber ein Ensemble herausgebildet, um welches die besten Provinzial-
theater es beneiden können.

Das Stadttheater, unter Direktion von Fräulein Mathilde Veneta, trägt
in diesem Winter ganz die Physiognomie einer theatralischen Versuchsstation.
Weiß der Himmel, wo man dort die Zeit zum Einstudiren hernimmt! All¬
wöchentlich eine, zwei, wenn nicht gar noch mehr Novitäten! Auf allen mög^
kleben Gebieten wird herumexperimentirt, Lust-, Schau- und Trauerspiele aller
Nationen sogar die Holländer fehlen nicht unter ihnen -- sind bunt
durcheinander gewürfelt. Das ist für eine kleine Bühne jedenfalls ein Fehler,
ein Fehler freilich, der im Personal begründet liegt. Das Stadttheater be¬
sitzt nämlich zwei sehr bedeutende Künstlerinnen, aber von diamentral ent
gegengesetztem Charakter, die eine, Fräulein Mathilde Veneta, eine hochpathe¬
tische Tragödin, die andere Fräulein Both, eine reizende Soubrette. Beide
sind auf die Unterstützung desselben Personals angewiesen; daß aber dieselben
Leute morgen gleich gut ein Trauerspiel geben sollen, wie sie heute eine
Komödie gespielt haben, ist ein unmenschliches Verlangen. Im Allgemeinen
ist das Personal offenbar mehr für das Lustspiel und zwar für das bürger¬
liche ü. Ig, Benedix geeignet. Andererseits aber wäre doch sehr zu bedauern,
wenn wir durch diese Concentration auf das heitere Genre eine Künstlerin,
wie Fräulein Veneta, verlieren müßten, deren Medea von gradezu typischer
Bedeutung ist und die uns vor kurzem erst als Elisabeth in Laube's "Essex"
so recht hat empfinden lassen, was wir an ihr besitzen.

Durch eine seltene und deshalb um so dankenswerthere Gabe hat uns
in den letzten Wochen das Nationaltheater erfreut, durch des alten Kalidasa
duftige "Sakuntala." Die Titelrolle spielte Fräulein Bland aus Wien.
Irren wir nicht, so war es ebenfalls Fräulein Bland, mit Rücksicht auf
welche Herr von Wolzogen das altindische Drama vor mehreren Jahren für
die Schweriner Bühne bearbeitete. Mit einer für die Wiedergabe lyrisch-
sentimentaler Stimmungen so reichbegabten Künstlerin ließ sich das seltsame
Unternehmen wagen; ob aber das Stück auch nach der Abreise des Gastes
noch seine Zugkraft bewahren wird, ist doch zu bezweifeln.


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Verantwortlicher Redakteur: Dr. Haus Blum.
Verlag von F. L° Herbig. -- Druck von Hiithel " Legler in Leipzig.

denztheaters selbst kann nur mit Achtung gesprochen werden. Die unmittel¬
bare Nähe des Wallnertheaters macht ihm — es hat die Räume des alten
Wallnertheaters inne — das Leben doppelt schwer. In dieser Concurrenz
hat es sich aber ein Ensemble herausgebildet, um welches die besten Provinzial-
theater es beneiden können.

Das Stadttheater, unter Direktion von Fräulein Mathilde Veneta, trägt
in diesem Winter ganz die Physiognomie einer theatralischen Versuchsstation.
Weiß der Himmel, wo man dort die Zeit zum Einstudiren hernimmt! All¬
wöchentlich eine, zwei, wenn nicht gar noch mehr Novitäten! Auf allen mög^
kleben Gebieten wird herumexperimentirt, Lust-, Schau- und Trauerspiele aller
Nationen sogar die Holländer fehlen nicht unter ihnen — sind bunt
durcheinander gewürfelt. Das ist für eine kleine Bühne jedenfalls ein Fehler,
ein Fehler freilich, der im Personal begründet liegt. Das Stadttheater be¬
sitzt nämlich zwei sehr bedeutende Künstlerinnen, aber von diamentral ent
gegengesetztem Charakter, die eine, Fräulein Mathilde Veneta, eine hochpathe¬
tische Tragödin, die andere Fräulein Both, eine reizende Soubrette. Beide
sind auf die Unterstützung desselben Personals angewiesen; daß aber dieselben
Leute morgen gleich gut ein Trauerspiel geben sollen, wie sie heute eine
Komödie gespielt haben, ist ein unmenschliches Verlangen. Im Allgemeinen
ist das Personal offenbar mehr für das Lustspiel und zwar für das bürger¬
liche ü. Ig, Benedix geeignet. Andererseits aber wäre doch sehr zu bedauern,
wenn wir durch diese Concentration auf das heitere Genre eine Künstlerin,
wie Fräulein Veneta, verlieren müßten, deren Medea von gradezu typischer
Bedeutung ist und die uns vor kurzem erst als Elisabeth in Laube's „Essex"
so recht hat empfinden lassen, was wir an ihr besitzen.

Durch eine seltene und deshalb um so dankenswerthere Gabe hat uns
in den letzten Wochen das Nationaltheater erfreut, durch des alten Kalidasa
duftige „Sakuntala." Die Titelrolle spielte Fräulein Bland aus Wien.
Irren wir nicht, so war es ebenfalls Fräulein Bland, mit Rücksicht auf
welche Herr von Wolzogen das altindische Drama vor mehreren Jahren für
die Schweriner Bühne bearbeitete. Mit einer für die Wiedergabe lyrisch-
sentimentaler Stimmungen so reichbegabten Künstlerin ließ sich das seltsame
Unternehmen wagen; ob aber das Stück auch nach der Abreise des Gastes
noch seine Zugkraft bewahren wird, ist doch zu bezweifeln.


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Verlag von F. L° Herbig. — Druck von Hiithel » Legler in Leipzig.
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[0326] denztheaters selbst kann nur mit Achtung gesprochen werden. Die unmittel¬ bare Nähe des Wallnertheaters macht ihm — es hat die Räume des alten Wallnertheaters inne — das Leben doppelt schwer. In dieser Concurrenz hat es sich aber ein Ensemble herausgebildet, um welches die besten Provinzial- theater es beneiden können. Das Stadttheater, unter Direktion von Fräulein Mathilde Veneta, trägt in diesem Winter ganz die Physiognomie einer theatralischen Versuchsstation. Weiß der Himmel, wo man dort die Zeit zum Einstudiren hernimmt! All¬ wöchentlich eine, zwei, wenn nicht gar noch mehr Novitäten! Auf allen mög^ kleben Gebieten wird herumexperimentirt, Lust-, Schau- und Trauerspiele aller Nationen sogar die Holländer fehlen nicht unter ihnen — sind bunt durcheinander gewürfelt. Das ist für eine kleine Bühne jedenfalls ein Fehler, ein Fehler freilich, der im Personal begründet liegt. Das Stadttheater be¬ sitzt nämlich zwei sehr bedeutende Künstlerinnen, aber von diamentral ent gegengesetztem Charakter, die eine, Fräulein Mathilde Veneta, eine hochpathe¬ tische Tragödin, die andere Fräulein Both, eine reizende Soubrette. Beide sind auf die Unterstützung desselben Personals angewiesen; daß aber dieselben Leute morgen gleich gut ein Trauerspiel geben sollen, wie sie heute eine Komödie gespielt haben, ist ein unmenschliches Verlangen. Im Allgemeinen ist das Personal offenbar mehr für das Lustspiel und zwar für das bürger¬ liche ü. Ig, Benedix geeignet. Andererseits aber wäre doch sehr zu bedauern, wenn wir durch diese Concentration auf das heitere Genre eine Künstlerin, wie Fräulein Veneta, verlieren müßten, deren Medea von gradezu typischer Bedeutung ist und die uns vor kurzem erst als Elisabeth in Laube's „Essex" so recht hat empfinden lassen, was wir an ihr besitzen. Durch eine seltene und deshalb um so dankenswerthere Gabe hat uns in den letzten Wochen das Nationaltheater erfreut, durch des alten Kalidasa duftige „Sakuntala." Die Titelrolle spielte Fräulein Bland aus Wien. Irren wir nicht, so war es ebenfalls Fräulein Bland, mit Rücksicht auf welche Herr von Wolzogen das altindische Drama vor mehreren Jahren für die Schweriner Bühne bearbeitete. Mit einer für die Wiedergabe lyrisch- sentimentaler Stimmungen so reichbegabten Künstlerin ließ sich das seltsame Unternehmen wagen; ob aber das Stück auch nach der Abreise des Gastes noch seine Zugkraft bewahren wird, ist doch zu bezweifeln. X- x> Verantwortlicher Redakteur: Dr. Haus Blum. Verlag von F. L° Herbig. — Druck von Hiithel » Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/326>, abgerufen am 13.05.2024.