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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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den Socialdemokraten beinahe gleich gethan zu haben. Acht bis zehn ge>
schworene Gegner der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung sitzen auf
den Bänken des neuversammelten Reichstages. Davon sind sechs in dem
gewerbfleißigen Sachsen gewählt worden. Dies Ländchen macht aber be¬
kanntlich nur den sechzehnten Theil des gesammten Reiches aus. In wel¬
chen Ausdrücken der "Bolksstaat" seine Freude über diese unleugbaren That¬
sachen kundgegeben hat, weiß jeder, dem die pikante aber nicht grade propere
Darstellungsweise des erwähnten Parteiorganes geläufig ist.

Die Socialdemokraten nennen sich mit Vorliebe eine Partei und mit noch
größerer Vorliebe -- eine große, eine ungeheure Partei.

Was heißt das aber, eine Partei sein? Die vorläufige Antwort darauf
würde lauten: eine Partei ist ein Volkstheil, eine Gruppe Gleichgesinnter,
die sich einig weiß in irgend einem Principe. Das Princip mag zunächst
sein, welches es will.

Hat nun die socialdemokratische Partei ein wirkliches Princip, eine
feste Norm für ihr Vorgehen oder nicht? Wer einen Grundsatz durchführen
will, muß berechnen können, ob die Mittel, die er zur Erreichung seines Zie¬
les in Bewegung setzt, zureichend sind oder nicht. Vor allem muß das Ziel
selbst aber kein Hirngespinnst sein, sondern eine Sache, auf die man klar und
deutlich mit dem Zeigefinger hinweisen kann. Welches Ziel, welches Princip
hat nun die socialdemokratische Partei auf ihre Fahne geschrieben? Welche
Interessen vertritt sie?

Auf die Frage nach dem Wahlspruch der Fahne, heißt die Antwort:
aus Freiheit, mit Freiheit, zur Freiheit. Heute Freiheit, morgen Freiheit --
bis in Ewigkeit Freiheit -- Amen.

- Auf die Frage nach den Interessen, wird man zur Antwort bekommen:
wir vertreten unsere eignen.

Welches Ideal von Freiheit sucht nun die Socialdemokratie zu erstreben
und worin unterscheidet sich dieses Ideal von dem, was die sogenannte
"Bourgeoisie" erstrebt? Ein Anhänger Lassalle's würde hier gleich einwenden,
daß ein Burgeois gar nicht im Stande sei, ein Ideal zu hegen. Lassalle
versteht bekanntlich unter der Burgeoisie diejenige Klasse von Leuten, welche
die Mittelstellung zwischen dem großen Kapital und dem Arbeiter einnimmt.
Diese Mittelklasse ist um so unbequemer, als sie den direkten Kampf zwischen
Capital und Arbeit sehr erschwert. Und dieser Kampf muß geführt werden --
es mag kommen, wie es will. Die ungleiche Gütervertheilung kann nicht
fortbestehen, es muß Abhülfe für diese Calamität gesucht werden. Freiheit
vom Drucke des Capitals -- das ist die erste Forderung und die eine
Seite des freiheitlichen Ideales.


den Socialdemokraten beinahe gleich gethan zu haben. Acht bis zehn ge>
schworene Gegner der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung sitzen auf
den Bänken des neuversammelten Reichstages. Davon sind sechs in dem
gewerbfleißigen Sachsen gewählt worden. Dies Ländchen macht aber be¬
kanntlich nur den sechzehnten Theil des gesammten Reiches aus. In wel¬
chen Ausdrücken der „Bolksstaat" seine Freude über diese unleugbaren That¬
sachen kundgegeben hat, weiß jeder, dem die pikante aber nicht grade propere
Darstellungsweise des erwähnten Parteiorganes geläufig ist.

Die Socialdemokraten nennen sich mit Vorliebe eine Partei und mit noch
größerer Vorliebe — eine große, eine ungeheure Partei.

Was heißt das aber, eine Partei sein? Die vorläufige Antwort darauf
würde lauten: eine Partei ist ein Volkstheil, eine Gruppe Gleichgesinnter,
die sich einig weiß in irgend einem Principe. Das Princip mag zunächst
sein, welches es will.

Hat nun die socialdemokratische Partei ein wirkliches Princip, eine
feste Norm für ihr Vorgehen oder nicht? Wer einen Grundsatz durchführen
will, muß berechnen können, ob die Mittel, die er zur Erreichung seines Zie¬
les in Bewegung setzt, zureichend sind oder nicht. Vor allem muß das Ziel
selbst aber kein Hirngespinnst sein, sondern eine Sache, auf die man klar und
deutlich mit dem Zeigefinger hinweisen kann. Welches Ziel, welches Princip
hat nun die socialdemokratische Partei auf ihre Fahne geschrieben? Welche
Interessen vertritt sie?

Auf die Frage nach dem Wahlspruch der Fahne, heißt die Antwort:
aus Freiheit, mit Freiheit, zur Freiheit. Heute Freiheit, morgen Freiheit —
bis in Ewigkeit Freiheit — Amen.

- Auf die Frage nach den Interessen, wird man zur Antwort bekommen:
wir vertreten unsere eignen.

Welches Ideal von Freiheit sucht nun die Socialdemokratie zu erstreben
und worin unterscheidet sich dieses Ideal von dem, was die sogenannte
„Bourgeoisie" erstrebt? Ein Anhänger Lassalle's würde hier gleich einwenden,
daß ein Burgeois gar nicht im Stande sei, ein Ideal zu hegen. Lassalle
versteht bekanntlich unter der Burgeoisie diejenige Klasse von Leuten, welche
die Mittelstellung zwischen dem großen Kapital und dem Arbeiter einnimmt.
Diese Mittelklasse ist um so unbequemer, als sie den direkten Kampf zwischen
Capital und Arbeit sehr erschwert. Und dieser Kampf muß geführt werden —
es mag kommen, wie es will. Die ungleiche Gütervertheilung kann nicht
fortbestehen, es muß Abhülfe für diese Calamität gesucht werden. Freiheit
vom Drucke des Capitals — das ist die erste Forderung und die eine
Seite des freiheitlichen Ideales.


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[0342] den Socialdemokraten beinahe gleich gethan zu haben. Acht bis zehn ge> schworene Gegner der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung sitzen auf den Bänken des neuversammelten Reichstages. Davon sind sechs in dem gewerbfleißigen Sachsen gewählt worden. Dies Ländchen macht aber be¬ kanntlich nur den sechzehnten Theil des gesammten Reiches aus. In wel¬ chen Ausdrücken der „Bolksstaat" seine Freude über diese unleugbaren That¬ sachen kundgegeben hat, weiß jeder, dem die pikante aber nicht grade propere Darstellungsweise des erwähnten Parteiorganes geläufig ist. Die Socialdemokraten nennen sich mit Vorliebe eine Partei und mit noch größerer Vorliebe — eine große, eine ungeheure Partei. Was heißt das aber, eine Partei sein? Die vorläufige Antwort darauf würde lauten: eine Partei ist ein Volkstheil, eine Gruppe Gleichgesinnter, die sich einig weiß in irgend einem Principe. Das Princip mag zunächst sein, welches es will. Hat nun die socialdemokratische Partei ein wirkliches Princip, eine feste Norm für ihr Vorgehen oder nicht? Wer einen Grundsatz durchführen will, muß berechnen können, ob die Mittel, die er zur Erreichung seines Zie¬ les in Bewegung setzt, zureichend sind oder nicht. Vor allem muß das Ziel selbst aber kein Hirngespinnst sein, sondern eine Sache, auf die man klar und deutlich mit dem Zeigefinger hinweisen kann. Welches Ziel, welches Princip hat nun die socialdemokratische Partei auf ihre Fahne geschrieben? Welche Interessen vertritt sie? Auf die Frage nach dem Wahlspruch der Fahne, heißt die Antwort: aus Freiheit, mit Freiheit, zur Freiheit. Heute Freiheit, morgen Freiheit — bis in Ewigkeit Freiheit — Amen. - Auf die Frage nach den Interessen, wird man zur Antwort bekommen: wir vertreten unsere eignen. Welches Ideal von Freiheit sucht nun die Socialdemokratie zu erstreben und worin unterscheidet sich dieses Ideal von dem, was die sogenannte „Bourgeoisie" erstrebt? Ein Anhänger Lassalle's würde hier gleich einwenden, daß ein Burgeois gar nicht im Stande sei, ein Ideal zu hegen. Lassalle versteht bekanntlich unter der Burgeoisie diejenige Klasse von Leuten, welche die Mittelstellung zwischen dem großen Kapital und dem Arbeiter einnimmt. Diese Mittelklasse ist um so unbequemer, als sie den direkten Kampf zwischen Capital und Arbeit sehr erschwert. Und dieser Kampf muß geführt werden — es mag kommen, wie es will. Die ungleiche Gütervertheilung kann nicht fortbestehen, es muß Abhülfe für diese Calamität gesucht werden. Freiheit vom Drucke des Capitals — das ist die erste Forderung und die eine Seite des freiheitlichen Ideales.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/342>, abgerufen am 13.05.2024.