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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Verweigerungen, Verkehrsstörungen und allen möglichen Wirrnissen kommen,
deren Ende nicht abzusehen wäre. Der gute Wille des Chefs und die Loyali¬
tät der Arbeiter sind die Hauptgarantien für einen erfolgreichen Austrag der
ganzen Frage. Die Loyalität ist aber eine Frucht der Bildung; durch Agi¬
tationen werden dagegen die Arbeitermassen meistentheils nur zum Trotz und
zur Widerspenstigkeit angereizt. Es können daher nicht genug Volksbildungs¬
vereine gegründet werden, um der immer mehr anschwellenden Woge des
Socialismus einen Damm entgegenzusetzen. Man muß klare und schlagfertige
Männer von guter Bildung als Wanderlehrer hinaussenden in die kleinen
Städte, um die Bevölkerungen derselben aus ihrer Stagnation aufzurütteln.
Diese Nothwendigkeit macht sich von Tag zu Tag mehr fühlbar. Alle Ge¬
bildeten in Deutschland und anderwärts haben die große Aufgabe begriffen
und man thut wirklich erfolgreiche Schritte in dieser Hinsicht. Der Kassen¬
bestand des Berliner Centralcomite für Verbreitung von Volksbildung be¬
läuft sich gegenwärtig auf circa 8500 Thaler. Davon werden die Ausgaben
für das laufende Jahr bestritten.

Für Solche, die wenig Kenntniß der Geschichte und des Welttreibens
überhaupt besitzen, sind die Lehren der Socialisten sehr verführerisch. Wenn
einem Arbeiter, der sich bisher nicht im mindesten mit nationalökonomischen
Dingen befaßt hat, gesagt wird, daß das eherne Lvhngesetz die Arbeiterkaste
zu stetem Schmachten und Darben verurtheile, so wird ihm diese Eröffnung
zuerst einigen Trost gewähren, weil ihm sein individuelles Schicksal wie eine
verhängnißvolle Nothwendigkeit erscheint. Das ist der erste Eindruck. Bald
nachher wird er sich aber als Welt- und Staatsbürger höchst unglücklich
fühlen. Denn was ist das für ein Schöpfer, der eine Welt construirte, in
der die thätigste Kaste zum Schmachten verurtheilt ist? Was ist das für eine
Natureinrichtung, wo derjenige, der die meiste Muskel- und Nervensubstanz
verbraucht, die größten Schwierigkeiten der Ernährung und Stärkung hat?
Solche Fragen muß der falsch belehrte Arbeiter aufwerfen. Aber Gott und
Natur bleiben ihm die Antwort schuldig. Da besinnt er sich, daß er in
einem Staate lebt und eine Regierung über sich hat, die ihm Steuern abver¬
langt. Für was bezahlt er diese Regierung, wenn sie ihn nicht vom Drucke
des Lassalle'schen Lohngesetzes befreien kann! Sie verwendet ganz sicher zuviel
Geld auf das Militär und die Staatsbeamten, sie errichtet Luxusbauten ze. :c.
Des Klagens und Schimpfens ist nun kein Ende.

Ich sage nicht, daß ein falschbelehrter Arbeiter so klar und so folge¬
richtig denkt -- aber wenn auch sein Gedankengang im Zickzack geht, wird
er schließlich bei demselben Resultate anlangen. Und auf das kommt es hier
an! Das Resultat ist eben: Unzufriedenheit mit sich selbst, mit seinem


Verweigerungen, Verkehrsstörungen und allen möglichen Wirrnissen kommen,
deren Ende nicht abzusehen wäre. Der gute Wille des Chefs und die Loyali¬
tät der Arbeiter sind die Hauptgarantien für einen erfolgreichen Austrag der
ganzen Frage. Die Loyalität ist aber eine Frucht der Bildung; durch Agi¬
tationen werden dagegen die Arbeitermassen meistentheils nur zum Trotz und
zur Widerspenstigkeit angereizt. Es können daher nicht genug Volksbildungs¬
vereine gegründet werden, um der immer mehr anschwellenden Woge des
Socialismus einen Damm entgegenzusetzen. Man muß klare und schlagfertige
Männer von guter Bildung als Wanderlehrer hinaussenden in die kleinen
Städte, um die Bevölkerungen derselben aus ihrer Stagnation aufzurütteln.
Diese Nothwendigkeit macht sich von Tag zu Tag mehr fühlbar. Alle Ge¬
bildeten in Deutschland und anderwärts haben die große Aufgabe begriffen
und man thut wirklich erfolgreiche Schritte in dieser Hinsicht. Der Kassen¬
bestand des Berliner Centralcomite für Verbreitung von Volksbildung be¬
läuft sich gegenwärtig auf circa 8500 Thaler. Davon werden die Ausgaben
für das laufende Jahr bestritten.

Für Solche, die wenig Kenntniß der Geschichte und des Welttreibens
überhaupt besitzen, sind die Lehren der Socialisten sehr verführerisch. Wenn
einem Arbeiter, der sich bisher nicht im mindesten mit nationalökonomischen
Dingen befaßt hat, gesagt wird, daß das eherne Lvhngesetz die Arbeiterkaste
zu stetem Schmachten und Darben verurtheile, so wird ihm diese Eröffnung
zuerst einigen Trost gewähren, weil ihm sein individuelles Schicksal wie eine
verhängnißvolle Nothwendigkeit erscheint. Das ist der erste Eindruck. Bald
nachher wird er sich aber als Welt- und Staatsbürger höchst unglücklich
fühlen. Denn was ist das für ein Schöpfer, der eine Welt construirte, in
der die thätigste Kaste zum Schmachten verurtheilt ist? Was ist das für eine
Natureinrichtung, wo derjenige, der die meiste Muskel- und Nervensubstanz
verbraucht, die größten Schwierigkeiten der Ernährung und Stärkung hat?
Solche Fragen muß der falsch belehrte Arbeiter aufwerfen. Aber Gott und
Natur bleiben ihm die Antwort schuldig. Da besinnt er sich, daß er in
einem Staate lebt und eine Regierung über sich hat, die ihm Steuern abver¬
langt. Für was bezahlt er diese Regierung, wenn sie ihn nicht vom Drucke
des Lassalle'schen Lohngesetzes befreien kann! Sie verwendet ganz sicher zuviel
Geld auf das Militär und die Staatsbeamten, sie errichtet Luxusbauten ze. :c.
Des Klagens und Schimpfens ist nun kein Ende.

Ich sage nicht, daß ein falschbelehrter Arbeiter so klar und so folge¬
richtig denkt — aber wenn auch sein Gedankengang im Zickzack geht, wird
er schließlich bei demselben Resultate anlangen. Und auf das kommt es hier
an! Das Resultat ist eben: Unzufriedenheit mit sich selbst, mit seinem


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[0344] Verweigerungen, Verkehrsstörungen und allen möglichen Wirrnissen kommen, deren Ende nicht abzusehen wäre. Der gute Wille des Chefs und die Loyali¬ tät der Arbeiter sind die Hauptgarantien für einen erfolgreichen Austrag der ganzen Frage. Die Loyalität ist aber eine Frucht der Bildung; durch Agi¬ tationen werden dagegen die Arbeitermassen meistentheils nur zum Trotz und zur Widerspenstigkeit angereizt. Es können daher nicht genug Volksbildungs¬ vereine gegründet werden, um der immer mehr anschwellenden Woge des Socialismus einen Damm entgegenzusetzen. Man muß klare und schlagfertige Männer von guter Bildung als Wanderlehrer hinaussenden in die kleinen Städte, um die Bevölkerungen derselben aus ihrer Stagnation aufzurütteln. Diese Nothwendigkeit macht sich von Tag zu Tag mehr fühlbar. Alle Ge¬ bildeten in Deutschland und anderwärts haben die große Aufgabe begriffen und man thut wirklich erfolgreiche Schritte in dieser Hinsicht. Der Kassen¬ bestand des Berliner Centralcomite für Verbreitung von Volksbildung be¬ läuft sich gegenwärtig auf circa 8500 Thaler. Davon werden die Ausgaben für das laufende Jahr bestritten. Für Solche, die wenig Kenntniß der Geschichte und des Welttreibens überhaupt besitzen, sind die Lehren der Socialisten sehr verführerisch. Wenn einem Arbeiter, der sich bisher nicht im mindesten mit nationalökonomischen Dingen befaßt hat, gesagt wird, daß das eherne Lvhngesetz die Arbeiterkaste zu stetem Schmachten und Darben verurtheile, so wird ihm diese Eröffnung zuerst einigen Trost gewähren, weil ihm sein individuelles Schicksal wie eine verhängnißvolle Nothwendigkeit erscheint. Das ist der erste Eindruck. Bald nachher wird er sich aber als Welt- und Staatsbürger höchst unglücklich fühlen. Denn was ist das für ein Schöpfer, der eine Welt construirte, in der die thätigste Kaste zum Schmachten verurtheilt ist? Was ist das für eine Natureinrichtung, wo derjenige, der die meiste Muskel- und Nervensubstanz verbraucht, die größten Schwierigkeiten der Ernährung und Stärkung hat? Solche Fragen muß der falsch belehrte Arbeiter aufwerfen. Aber Gott und Natur bleiben ihm die Antwort schuldig. Da besinnt er sich, daß er in einem Staate lebt und eine Regierung über sich hat, die ihm Steuern abver¬ langt. Für was bezahlt er diese Regierung, wenn sie ihn nicht vom Drucke des Lassalle'schen Lohngesetzes befreien kann! Sie verwendet ganz sicher zuviel Geld auf das Militär und die Staatsbeamten, sie errichtet Luxusbauten ze. :c. Des Klagens und Schimpfens ist nun kein Ende. Ich sage nicht, daß ein falschbelehrter Arbeiter so klar und so folge¬ richtig denkt — aber wenn auch sein Gedankengang im Zickzack geht, wird er schließlich bei demselben Resultate anlangen. Und auf das kommt es hier an! Das Resultat ist eben: Unzufriedenheit mit sich selbst, mit seinem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/344>, abgerufen am 16.06.2024.