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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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nur annähernd Befriedigendes oder gar Erschöpfendes in der Literatur
sich gezeigt habe. Daß noch Vieles festzustellen, gerade diese Lebensepoche von
Mißverstandenem, Halbwahrem und von der Fabel zu reinigen sei, haben
unsere früheren Arbeiten dargethan, und bei dem sich uns fortwährend dar¬
bietenden neuen Materials dürfte sich zeigen, wie dringend nöthig diese Art
von Vorarbeiten für das Goethe'sche Leben sich erweist, um den künftigen
Biographen ein reicheres und zugleich geläutertes Material darzubieten.

Schon früher ist von uns einmal darauf hingewiesen worden, welche Be¬
deutung für Goethe's Leben Philipp Seidel gehabt habe, der mit ihm
in Weimar seinen Einzug hielt. Daß von seinen Correspondenzen unendlich
viel für die Beurtheilung des Dichters zu erwarten steht, liegt außer allem
Zweifel, aber eben so gewiß ist, daß ein guter Theil seiner Briefe unterge¬
gangen ist und die fortgesetzten Bestrebungen, sein Verhältniß zu Goethe gründ¬
licher zu fixiren, ohne bedeutende Erfolge bleiben werden. Nur zwei Briefe
aus der frühsten Zeit seines Weimarischen Aufenthaltes sind uns neuerdings
bekannt geworden, die wir als höchst bedeutsame Documente hier einfügen,
um durch sie darzuthun, daß die Forschung nach dieser Seite hin überaus
glückliche Resultate erzielen wird, sobald jene von günstigern Umständen als
bisher begleitet ist.

Sehr anziehend schreibt Seidel am 23. November 1775 Nachts 11 Uhr
an Johann Adam Wolf in Frankfurt:

Nein, in dieser seligen Lage muß ich Dir schreiben guter Bruder, da kopier ich
einen Roman, von welchem mein Herr der Verfasser ist. Ich bin an einer Stelle,
die mich wahrhaft himmlisch entzückte und in dieser Lage will ich Dir schreiben, ob
ich gleich sehr getrieben werde es fertig zu machen. Ich hab alles, Arbeit genug, Essen,
Trinken und Geld, und -- nur keine Liebe, keine Seele, der ich mich mittheilen konnte.
Es ist ein müssiges steifes üppiges Volk, das einem oft unleidlich wird. Ihr ganzes
Verdienst ist, daß sie Bücher lesen und dadurch noch unerträglicher werden. Ich soll
Dir was über'n Hof sagen. Viel kann ich nicht, weil ich nicht viel dran zu thun habe
und mich eigentlich nichts da interessirt. Aber das muß ich Dir sagen, daß meine
Seelenlust ist, die fürstliche Familie zu sehen. Man kann die große fürstliche aiss
an der verwittweten Herzogin und den gütigen jugendlichen Blick des Herzogs nicht
genug bewundern. Wenn aber auch das Volk von ihnen redet, solltest Du auch das
Rühmen hören und das: Gott sey Dank! mit thränenden Augen und Gott erhalte
sie uns! Es ist rührend.

Am H den 17. twj. waren wir auf der Redoute, da gefiel mirs. Es gab aller¬
lei artig Zeug. Besonders aber machten sie einen alten deutschen Tanz, -- so ur¬
theile ich mit Zuversicht aus der Musik -- der mir gefiel. Nun hör. Die Nacht
schliefen wir also nicht. Die folgende, als Samstags den 18. Nov. um 12^ Uhr
legten wir uns. Wir schlafen nun zu dreyen in einer Kammer. Da kamen wir ins
Gespräch aus einem ins andere bis zu allen Teufeln. Stell Dir die erschreckliche
Wendung vor: Von Liebesgeschichten auf die Insel Corsika und auf ihr blieben wir


nur annähernd Befriedigendes oder gar Erschöpfendes in der Literatur
sich gezeigt habe. Daß noch Vieles festzustellen, gerade diese Lebensepoche von
Mißverstandenem, Halbwahrem und von der Fabel zu reinigen sei, haben
unsere früheren Arbeiten dargethan, und bei dem sich uns fortwährend dar¬
bietenden neuen Materials dürfte sich zeigen, wie dringend nöthig diese Art
von Vorarbeiten für das Goethe'sche Leben sich erweist, um den künftigen
Biographen ein reicheres und zugleich geläutertes Material darzubieten.

Schon früher ist von uns einmal darauf hingewiesen worden, welche Be¬
deutung für Goethe's Leben Philipp Seidel gehabt habe, der mit ihm
in Weimar seinen Einzug hielt. Daß von seinen Correspondenzen unendlich
viel für die Beurtheilung des Dichters zu erwarten steht, liegt außer allem
Zweifel, aber eben so gewiß ist, daß ein guter Theil seiner Briefe unterge¬
gangen ist und die fortgesetzten Bestrebungen, sein Verhältniß zu Goethe gründ¬
licher zu fixiren, ohne bedeutende Erfolge bleiben werden. Nur zwei Briefe
aus der frühsten Zeit seines Weimarischen Aufenthaltes sind uns neuerdings
bekannt geworden, die wir als höchst bedeutsame Documente hier einfügen,
um durch sie darzuthun, daß die Forschung nach dieser Seite hin überaus
glückliche Resultate erzielen wird, sobald jene von günstigern Umständen als
bisher begleitet ist.

Sehr anziehend schreibt Seidel am 23. November 1775 Nachts 11 Uhr
an Johann Adam Wolf in Frankfurt:

Nein, in dieser seligen Lage muß ich Dir schreiben guter Bruder, da kopier ich
einen Roman, von welchem mein Herr der Verfasser ist. Ich bin an einer Stelle,
die mich wahrhaft himmlisch entzückte und in dieser Lage will ich Dir schreiben, ob
ich gleich sehr getrieben werde es fertig zu machen. Ich hab alles, Arbeit genug, Essen,
Trinken und Geld, und — nur keine Liebe, keine Seele, der ich mich mittheilen konnte.
Es ist ein müssiges steifes üppiges Volk, das einem oft unleidlich wird. Ihr ganzes
Verdienst ist, daß sie Bücher lesen und dadurch noch unerträglicher werden. Ich soll
Dir was über'n Hof sagen. Viel kann ich nicht, weil ich nicht viel dran zu thun habe
und mich eigentlich nichts da interessirt. Aber das muß ich Dir sagen, daß meine
Seelenlust ist, die fürstliche Familie zu sehen. Man kann die große fürstliche aiss
an der verwittweten Herzogin und den gütigen jugendlichen Blick des Herzogs nicht
genug bewundern. Wenn aber auch das Volk von ihnen redet, solltest Du auch das
Rühmen hören und das: Gott sey Dank! mit thränenden Augen und Gott erhalte
sie uns! Es ist rührend.

Am H den 17. twj. waren wir auf der Redoute, da gefiel mirs. Es gab aller¬
lei artig Zeug. Besonders aber machten sie einen alten deutschen Tanz, — so ur¬
theile ich mit Zuversicht aus der Musik — der mir gefiel. Nun hör. Die Nacht
schliefen wir also nicht. Die folgende, als Samstags den 18. Nov. um 12^ Uhr
legten wir uns. Wir schlafen nun zu dreyen in einer Kammer. Da kamen wir ins
Gespräch aus einem ins andere bis zu allen Teufeln. Stell Dir die erschreckliche
Wendung vor: Von Liebesgeschichten auf die Insel Corsika und auf ihr blieben wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/382>, abgerufen am 13.05.2024.