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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Rabagas. Im Character freilich mögen die reichsländischen Volksvertreter
mit Herrn Rabagas wenig oder gar keine Ähnlichkeit haben, aber was sie
den rhetorischen Künsten der Franzosen glücklich abgeguckt, gleicht dem Ge-
bahren der Sardon'schen Carricatur oft wie ein El dem andern. Um übrigens
auf das Stück selbst zu kommen, so erinnert man sich, welch gräulichen
Tumult die vor etwa Jahresfrist erfolgte Aufführung desselben in Paris her¬
vorrief. Zu dem Helden hatte dem Dichter theils Ollivier, theils Gambetta
als Modell gesessen. Die Actualität, welche das Stück somit damals für
das französische Publikum haben mußte, war einem Berliner Auditorium,
besonders demjenigen des Stadttheaters gegenüber nicht vorhanden; hier lag
höchstens die Parallele mit den Socialdemokraten nahe, von denen sich denn
auch einige Häuptlinge zur ersten Aufführung eingefunden hatten. Die Hand¬
lung des Stückes ist eine sehr einfache: Rabagas, ein radicaler Advocat in
Monaco, steht auf dem Punkte, eine Revolution gegen den Fürsten seines
Landes in Scene zu setzen. Auf den klugen Rath einer Hofdame aber wird
er noch rechtzeitig an den Hof gezogen, erhält die Leitung der Staatsgeschäfte
und weiß sich in einer einzigen Nacht durch seine Eigensucht, Eitelkeit und
Feigheit beim Volke so vollständig zu discreditiren, beim Hofe so gründlich
lächerlich zu machen, daß er fortan ein abgethaner Mann ist. Eine einge¬
flochtene Liebesgeschichte gehört nicht zur Sache. Daß eine solche Handlung,
in fünf lange Acte, die durch das wesentlich langsamere Tempo des deutschen
Dialogs noch verlängert werden, auseinandergezogen, das Publikum unmög¬
lich in der zum "Amüsement" nöthigen Spannung erhalten kann, liegt auf
der Hand. Wenn nichtsdestoweniger das Stück sich länger, als man nach der
ersten Aufführung hätte erwarten können, auf dem Repertoir erhalten hat,
so ist daran nicht blos die Reclame oder die Mode, sondern auch das wirk¬
liche Verdienst schuld. Auf die Rolle des Rabagas hat der Dichter die ganze
raffinirte Technik seiner Kleinmalerei verwandt; sie ist eine Carricatur aller¬
dings, aber als solche ist sie vortrefflich. Auch wird sie auf der genannten
kleinen Bühne in vollkommen entsprechender Weise zur Darstellung gebracht,
wie denn überhaupt die ganze Ausführung als eine sehr anerkennenswerthe
Leistung bezeichnet werden muß.

Angenehmer aber ist freilich doch die Berichterstattung über ein anderes
theatralisches Ereigniß der letzten Zeit, die Wiederaufnahme der "lustigen
Weiber von Windsor" im Opernhause. Seit der Fahnenflucht der Lucca
war das liebenswürdige Shakespeare'sche Lustspiel in der ihm von Nicolat ver¬
liehenen reizenden musikalischen Gewandung nicht wieder über die Bretter ge¬
gangen; es schien, als fürchte man die Vergleichung mit der im Publikum
noch unvergessenen Frau Fluth der ehemaligen Primadonna. Um so größer


Rabagas. Im Character freilich mögen die reichsländischen Volksvertreter
mit Herrn Rabagas wenig oder gar keine Ähnlichkeit haben, aber was sie
den rhetorischen Künsten der Franzosen glücklich abgeguckt, gleicht dem Ge-
bahren der Sardon'schen Carricatur oft wie ein El dem andern. Um übrigens
auf das Stück selbst zu kommen, so erinnert man sich, welch gräulichen
Tumult die vor etwa Jahresfrist erfolgte Aufführung desselben in Paris her¬
vorrief. Zu dem Helden hatte dem Dichter theils Ollivier, theils Gambetta
als Modell gesessen. Die Actualität, welche das Stück somit damals für
das französische Publikum haben mußte, war einem Berliner Auditorium,
besonders demjenigen des Stadttheaters gegenüber nicht vorhanden; hier lag
höchstens die Parallele mit den Socialdemokraten nahe, von denen sich denn
auch einige Häuptlinge zur ersten Aufführung eingefunden hatten. Die Hand¬
lung des Stückes ist eine sehr einfache: Rabagas, ein radicaler Advocat in
Monaco, steht auf dem Punkte, eine Revolution gegen den Fürsten seines
Landes in Scene zu setzen. Auf den klugen Rath einer Hofdame aber wird
er noch rechtzeitig an den Hof gezogen, erhält die Leitung der Staatsgeschäfte
und weiß sich in einer einzigen Nacht durch seine Eigensucht, Eitelkeit und
Feigheit beim Volke so vollständig zu discreditiren, beim Hofe so gründlich
lächerlich zu machen, daß er fortan ein abgethaner Mann ist. Eine einge¬
flochtene Liebesgeschichte gehört nicht zur Sache. Daß eine solche Handlung,
in fünf lange Acte, die durch das wesentlich langsamere Tempo des deutschen
Dialogs noch verlängert werden, auseinandergezogen, das Publikum unmög¬
lich in der zum „Amüsement" nöthigen Spannung erhalten kann, liegt auf
der Hand. Wenn nichtsdestoweniger das Stück sich länger, als man nach der
ersten Aufführung hätte erwarten können, auf dem Repertoir erhalten hat,
so ist daran nicht blos die Reclame oder die Mode, sondern auch das wirk¬
liche Verdienst schuld. Auf die Rolle des Rabagas hat der Dichter die ganze
raffinirte Technik seiner Kleinmalerei verwandt; sie ist eine Carricatur aller¬
dings, aber als solche ist sie vortrefflich. Auch wird sie auf der genannten
kleinen Bühne in vollkommen entsprechender Weise zur Darstellung gebracht,
wie denn überhaupt die ganze Ausführung als eine sehr anerkennenswerthe
Leistung bezeichnet werden muß.

Angenehmer aber ist freilich doch die Berichterstattung über ein anderes
theatralisches Ereigniß der letzten Zeit, die Wiederaufnahme der „lustigen
Weiber von Windsor" im Opernhause. Seit der Fahnenflucht der Lucca
war das liebenswürdige Shakespeare'sche Lustspiel in der ihm von Nicolat ver¬
liehenen reizenden musikalischen Gewandung nicht wieder über die Bretter ge¬
gangen; es schien, als fürchte man die Vergleichung mit der im Publikum
noch unvergessenen Frau Fluth der ehemaligen Primadonna. Um so größer


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[0445] Rabagas. Im Character freilich mögen die reichsländischen Volksvertreter mit Herrn Rabagas wenig oder gar keine Ähnlichkeit haben, aber was sie den rhetorischen Künsten der Franzosen glücklich abgeguckt, gleicht dem Ge- bahren der Sardon'schen Carricatur oft wie ein El dem andern. Um übrigens auf das Stück selbst zu kommen, so erinnert man sich, welch gräulichen Tumult die vor etwa Jahresfrist erfolgte Aufführung desselben in Paris her¬ vorrief. Zu dem Helden hatte dem Dichter theils Ollivier, theils Gambetta als Modell gesessen. Die Actualität, welche das Stück somit damals für das französische Publikum haben mußte, war einem Berliner Auditorium, besonders demjenigen des Stadttheaters gegenüber nicht vorhanden; hier lag höchstens die Parallele mit den Socialdemokraten nahe, von denen sich denn auch einige Häuptlinge zur ersten Aufführung eingefunden hatten. Die Hand¬ lung des Stückes ist eine sehr einfache: Rabagas, ein radicaler Advocat in Monaco, steht auf dem Punkte, eine Revolution gegen den Fürsten seines Landes in Scene zu setzen. Auf den klugen Rath einer Hofdame aber wird er noch rechtzeitig an den Hof gezogen, erhält die Leitung der Staatsgeschäfte und weiß sich in einer einzigen Nacht durch seine Eigensucht, Eitelkeit und Feigheit beim Volke so vollständig zu discreditiren, beim Hofe so gründlich lächerlich zu machen, daß er fortan ein abgethaner Mann ist. Eine einge¬ flochtene Liebesgeschichte gehört nicht zur Sache. Daß eine solche Handlung, in fünf lange Acte, die durch das wesentlich langsamere Tempo des deutschen Dialogs noch verlängert werden, auseinandergezogen, das Publikum unmög¬ lich in der zum „Amüsement" nöthigen Spannung erhalten kann, liegt auf der Hand. Wenn nichtsdestoweniger das Stück sich länger, als man nach der ersten Aufführung hätte erwarten können, auf dem Repertoir erhalten hat, so ist daran nicht blos die Reclame oder die Mode, sondern auch das wirk¬ liche Verdienst schuld. Auf die Rolle des Rabagas hat der Dichter die ganze raffinirte Technik seiner Kleinmalerei verwandt; sie ist eine Carricatur aller¬ dings, aber als solche ist sie vortrefflich. Auch wird sie auf der genannten kleinen Bühne in vollkommen entsprechender Weise zur Darstellung gebracht, wie denn überhaupt die ganze Ausführung als eine sehr anerkennenswerthe Leistung bezeichnet werden muß. Angenehmer aber ist freilich doch die Berichterstattung über ein anderes theatralisches Ereigniß der letzten Zeit, die Wiederaufnahme der „lustigen Weiber von Windsor" im Opernhause. Seit der Fahnenflucht der Lucca war das liebenswürdige Shakespeare'sche Lustspiel in der ihm von Nicolat ver¬ liehenen reizenden musikalischen Gewandung nicht wieder über die Bretter ge¬ gangen; es schien, als fürchte man die Vergleichung mit der im Publikum noch unvergessenen Frau Fluth der ehemaligen Primadonna. Um so größer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/445>, abgerufen am 13.05.2024.