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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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und abermals durchsprachen und bis in die letzte Falte beleuchtet worden.
Jetzt handelt es sich nicht mehr um Studiren, sondern um Dekretiren. Es
ist die alte deutsche Schwäche, der alte Mangel des Entschlusses, der mit dem
Studiren nie zu Ende kommt, und den Mangel am Muth hinter der Maske
der Gewissenhaftigkeit verbirgt.

Wird man nach abermaliger ungerechtfertigter Verzögerung endlich den
rechten Entschluß finden? In den letzten Tagen, ich möchte sagen in den
letzten Stunden, haben sich die Aussichten gebessert. Das thörichte Auskunfts¬
mittel der hochgradigen Schwäche, immer wieder Provisorien zu schaffen,
scheint endlich von seinen Anhängern aufgegeben. Der fortschrittliche Gedanke
des Parlamentsheeres, das nach jährlicher Bewilligung g.ä libitum constituirt
wird, hat nur die Gegner des Reichs zu Anhängern. So hat man sich denn,
namentlich von Seiten Laster's und der ihm am nächsten angeschlossenen Ab¬
geordneten dem Gedanken zugewendet, dem Reichstag alljährlich die Entscheidung
innerhalb einer Marimal- und Minimalziffer des Präsenzstandes zuzuweisen.
Man sieht leicht, daß dieser Vorschlag sich nicht unbequem als Mittel dar¬
bietet, die Bewilligung der Regierungsforderung zu verhüllen. Auf eine
Minimalziffer, welche den Zweck der Friedenspräsenz nicht vollständig erfüllt,
kann und wird die Regierung nicht eingehen. Die sogenannte Minimalziffer
wird also die wahre Präsenzziffer sein, woraus dann folgt, daß sie gegen die
ursprüngliche Regierungsforderung höchstens um 20,000 Mann herabgesetzt
werden kann. Die Minimalziffer wird diejenige Ziffer sein, unter welche bei
Genehmigung der Friedenskosten der Reichstag nicht herabgehen darf; der
Verwaltung dagegen muß das Recht verbleiben, auf Grund besonderer Um¬
stände auch unter diese Ziffer im Jahresdurchschnitt einmal herabzugehen. Die
Maximalziffer, wenn sie überhaupt ausgesprochen wird, steht blos um Staat
zu machen da. Denn wenn außerordentliche Umstände einen ungewöhnlich
hohen Friedensstand bedingen, so wird die Forderung der Regierung an den
Reichstag sich natürlich nach diesen Umständen und nicht nach der Maximal¬
ziffer richten. Wenn man von Allem absieht, was bloß formelle Zuthat, so
steht also die Einigung in Aussicht auf Grund einer mäßig ermäßigten
Präsenzziffer, die aber feststehen wird bis zur Abänderung durch einen neuen
Beschluß der Gesetzgebung. In dieser günstigen Aussicht brauchen wir uns
heute nicht zu beschäftigen mit der Eventualität eines neuen Verfassungs-
confliktes, die vor einigen Tagen !n ernste Nähe gerückt schien.


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und abermals durchsprachen und bis in die letzte Falte beleuchtet worden.
Jetzt handelt es sich nicht mehr um Studiren, sondern um Dekretiren. Es
ist die alte deutsche Schwäche, der alte Mangel des Entschlusses, der mit dem
Studiren nie zu Ende kommt, und den Mangel am Muth hinter der Maske
der Gewissenhaftigkeit verbirgt.

Wird man nach abermaliger ungerechtfertigter Verzögerung endlich den
rechten Entschluß finden? In den letzten Tagen, ich möchte sagen in den
letzten Stunden, haben sich die Aussichten gebessert. Das thörichte Auskunfts¬
mittel der hochgradigen Schwäche, immer wieder Provisorien zu schaffen,
scheint endlich von seinen Anhängern aufgegeben. Der fortschrittliche Gedanke
des Parlamentsheeres, das nach jährlicher Bewilligung g.ä libitum constituirt
wird, hat nur die Gegner des Reichs zu Anhängern. So hat man sich denn,
namentlich von Seiten Laster's und der ihm am nächsten angeschlossenen Ab¬
geordneten dem Gedanken zugewendet, dem Reichstag alljährlich die Entscheidung
innerhalb einer Marimal- und Minimalziffer des Präsenzstandes zuzuweisen.
Man sieht leicht, daß dieser Vorschlag sich nicht unbequem als Mittel dar¬
bietet, die Bewilligung der Regierungsforderung zu verhüllen. Auf eine
Minimalziffer, welche den Zweck der Friedenspräsenz nicht vollständig erfüllt,
kann und wird die Regierung nicht eingehen. Die sogenannte Minimalziffer
wird also die wahre Präsenzziffer sein, woraus dann folgt, daß sie gegen die
ursprüngliche Regierungsforderung höchstens um 20,000 Mann herabgesetzt
werden kann. Die Minimalziffer wird diejenige Ziffer sein, unter welche bei
Genehmigung der Friedenskosten der Reichstag nicht herabgehen darf; der
Verwaltung dagegen muß das Recht verbleiben, auf Grund besonderer Um¬
stände auch unter diese Ziffer im Jahresdurchschnitt einmal herabzugehen. Die
Maximalziffer, wenn sie überhaupt ausgesprochen wird, steht blos um Staat
zu machen da. Denn wenn außerordentliche Umstände einen ungewöhnlich
hohen Friedensstand bedingen, so wird die Forderung der Regierung an den
Reichstag sich natürlich nach diesen Umständen und nicht nach der Maximal¬
ziffer richten. Wenn man von Allem absieht, was bloß formelle Zuthat, so
steht also die Einigung in Aussicht auf Grund einer mäßig ermäßigten
Präsenzziffer, die aber feststehen wird bis zur Abänderung durch einen neuen
Beschluß der Gesetzgebung. In dieser günstigen Aussicht brauchen wir uns
heute nicht zu beschäftigen mit der Eventualität eines neuen Verfassungs-
confliktes, die vor einigen Tagen !n ernste Nähe gerückt schien.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/473>, abgerufen am 12.05.2024.