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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Occupation; begreiflich daher, daß jeder selbstbewußte Italiener die Anwesen¬
heit des Schiffes mindestens als eine Beleidigung auffaßte. Aber der "Ore-
noque" blieb liegen, bis sich soeben bei derselben Veranlassung dieselbe Ge-
schichte, wie voriges Jahr, abspielte. Natürlich kam den Franzosen dieser
Zwischenfall im gegenwärtigen Augenblicke ganz besonders unangenehm; ließ
man doch gerade Herrn Nigra dem Herzog von Decazes die herzlichste Freund¬
schaft Italiens und die vollkommene Grundlosigkeit der Gerüchte über ein
italienisch-deutsches Bündniß betheuern. Aber der "soir" fand einen Aus¬
weg aus der Verlegenheit: nicht die Italiener haben die Orenoqueaffaire
wieder aufgerührt, sondern -- der böse Bismarck,! Ein schönes Compliment
für die Italiener, daß sie sich durch eine Intrigue des deutschen Reichskanzlers
so sehr echauffiren lassen! Man weiß nicht, soll man mehr die Frechheit oder
die Dummheit solcher Lügen bewundern. Merkwürdig nur, daß es in den
Augen des "soir" nicht auch Bismarck's Werk ist, wenn der "Orenoque"
überhaupt noch in den italienischen Gewässern sich aufhält. Sicherlich würde
man auf eine ähnliche Erfindung rechnen dürfen, wenn sich -- wie angesichts
der römischen Jnterpellation des klerikalen Du Temple vorauszusehen -- die
Behauptung des genannten Blattes von der unmittelbar bevorstehenden Zu¬
rückberufung des Schiffes von Civitavecchia nicht bestätigt. All' diese Tergi-
versationen, mit denen man sich selbst und Andere zu betrügen sucht, helfen
aber nicht über die sonnenklare Thatsache hinweg, daß die dermalige fran¬
zösische Politik eine solche ist, welcher kein italienischer Staatsmann ver¬
trauen kann.

Auch die unausgesetzten Vertröstungen auf eine Umgestaltung des Cabi-
nets in liberalerem Sinne können Niemanden täuschen. Selbst wenn es dem
Ehrgeiz des Herzogs von Audiffret-Pasquier endlich gelänge, sich an die
Stelle des Kriegsministers Du Barail zu sehen, selbst wenn in w^erer Kon¬
sequenz das rechte Centrum, die specifisch orleanistische Partei, das Heft ganz
in die Hände bekäme, das Verhältniß zu Rom würde dadurch schwerlich irgend¬
wie geändert werden. Was sonst die innere Politik anlangt, so mag sein,
daß das neue Cabinet das Werk der Constituirung der Republik -- natürlich
nur der siebenjährigen -- beschleunigen würde; denn von allen Parteien hat
die orleanistische das größte Interesse daran, das gegenwärtige Provisorium
zu befestigen. Die Willkürmaßregeln aber, mit denen die Regierung des Ordre
moral zur Zeit die dictatorischen Acte des Kaiserreichs in Schatten stellt, würde
auch ein aus lauter Mitgliedern des rechten Centrums bestehendes Ministeri¬
um nicht minder entschieden handhaben. In der That, in dieser Richtung
eröffnet das neue Jahr die traurigste Perspective. Die Behandlung der Presse
ist ohne Beispiel, Die Unterdrückung einer Reihe schweizerischer Blätter mag
vorwiegend Rancune gegen die kleine Republik sein, die den Römlingen so


Occupation; begreiflich daher, daß jeder selbstbewußte Italiener die Anwesen¬
heit des Schiffes mindestens als eine Beleidigung auffaßte. Aber der „Ore-
noque" blieb liegen, bis sich soeben bei derselben Veranlassung dieselbe Ge-
schichte, wie voriges Jahr, abspielte. Natürlich kam den Franzosen dieser
Zwischenfall im gegenwärtigen Augenblicke ganz besonders unangenehm; ließ
man doch gerade Herrn Nigra dem Herzog von Decazes die herzlichste Freund¬
schaft Italiens und die vollkommene Grundlosigkeit der Gerüchte über ein
italienisch-deutsches Bündniß betheuern. Aber der „soir" fand einen Aus¬
weg aus der Verlegenheit: nicht die Italiener haben die Orenoqueaffaire
wieder aufgerührt, sondern — der böse Bismarck,! Ein schönes Compliment
für die Italiener, daß sie sich durch eine Intrigue des deutschen Reichskanzlers
so sehr echauffiren lassen! Man weiß nicht, soll man mehr die Frechheit oder
die Dummheit solcher Lügen bewundern. Merkwürdig nur, daß es in den
Augen des „soir" nicht auch Bismarck's Werk ist, wenn der „Orenoque"
überhaupt noch in den italienischen Gewässern sich aufhält. Sicherlich würde
man auf eine ähnliche Erfindung rechnen dürfen, wenn sich — wie angesichts
der römischen Jnterpellation des klerikalen Du Temple vorauszusehen — die
Behauptung des genannten Blattes von der unmittelbar bevorstehenden Zu¬
rückberufung des Schiffes von Civitavecchia nicht bestätigt. All' diese Tergi-
versationen, mit denen man sich selbst und Andere zu betrügen sucht, helfen
aber nicht über die sonnenklare Thatsache hinweg, daß die dermalige fran¬
zösische Politik eine solche ist, welcher kein italienischer Staatsmann ver¬
trauen kann.

Auch die unausgesetzten Vertröstungen auf eine Umgestaltung des Cabi-
nets in liberalerem Sinne können Niemanden täuschen. Selbst wenn es dem
Ehrgeiz des Herzogs von Audiffret-Pasquier endlich gelänge, sich an die
Stelle des Kriegsministers Du Barail zu sehen, selbst wenn in w^erer Kon¬
sequenz das rechte Centrum, die specifisch orleanistische Partei, das Heft ganz
in die Hände bekäme, das Verhältniß zu Rom würde dadurch schwerlich irgend¬
wie geändert werden. Was sonst die innere Politik anlangt, so mag sein,
daß das neue Cabinet das Werk der Constituirung der Republik — natürlich
nur der siebenjährigen — beschleunigen würde; denn von allen Parteien hat
die orleanistische das größte Interesse daran, das gegenwärtige Provisorium
zu befestigen. Die Willkürmaßregeln aber, mit denen die Regierung des Ordre
moral zur Zeit die dictatorischen Acte des Kaiserreichs in Schatten stellt, würde
auch ein aus lauter Mitgliedern des rechten Centrums bestehendes Ministeri¬
um nicht minder entschieden handhaben. In der That, in dieser Richtung
eröffnet das neue Jahr die traurigste Perspective. Die Behandlung der Presse
ist ohne Beispiel, Die Unterdrückung einer Reihe schweizerischer Blätter mag
vorwiegend Rancune gegen die kleine Republik sein, die den Römlingen so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/76>, abgerufen am 26.05.2024.