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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band.

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befestigt. Ader heute mit dem Absolutismus fraternisiren, wenn er Rom ein
freundliches Gesicht zeigt, morgen mit der Revolution: das zeigt den Ultra¬
montanismus in dem Lichte, das die Geschichtserkenntniß längst auf ihn ge¬
worfen hat, in dem Lichte einer herrschsüchtigen Tendenz, für die alle sittlichen
Kräfte lediglich Mittel sind zum Gebräuchen oder zum Wegwerfen, zum
Bevorzugen oder zum Zerstören, je nachdem sie gerade zugeneigt oder ab¬
geneigt stehen. Eine Tendenz, die so verfährt, kann aber in sich selbst keine
sittliche sein; wäre sie eine solche, so müßte sie sich allem Sittlichen an¬
schließen.

Wenden wir uns wieder zu Herrn Jörg. Er behauptete dasselbe wie
Laster, nur nicht mit demselben Eindruck der Naivität: einen illoyalen Reichs¬
tag könne es nicht geben. Als ob das System der gegen einander relativ
selbständigen Staatsgewalten jemals in Anwendung geblieben wäre, wenn
man die wunderbare Entdeckung gemacht hätte, daß eine einzelne Staats¬
gewalt bei Ausstattung mit schrankenloser Macht immer beseelt bliebe von
der reinsten Absicht und der richtigen Einsicht! Will uns Herr Jörg glauben
machen, daß er an diese Entdeckung glaubt? Um den Glauben zu finden,
daß man so etwas glaube, muß man Erlebnisse einer Mannesseele geschrieben
haben. -- Herr Jörg versicherte weiter, wenn ein Staatsmann nach drei
Kriegen sein Ziel noch immer zu vertheidigen genöthigt sei, so müsse er es
falsch gesucht haben. Was ist das für eine historische Anschauung? Die
Unabhängigkeit der englischen Staats- und Seemacht wurde unter Elisabeth
gegründet. Wie viel Kriege hat es seitdem geführt? Es ist noch nicht
gesagt, ob und wie viel Kriege Deutschland für die Behauptung seiner neu
errungenen Stellung wird zu führen haben. Daraus aber, daß wir uns in
der Centralposition von Europa als unabhängiges und geeintes Volk nicht
waffenlos niederlassen dürfen, den Schluß zu ziehen, die Unabhängigkeit und
Einheit sei ein falsches Ziel gewesen, ist doch allzu sonderbar. Herr Jörg
ging soweit, aus der Aeußerung des Grafen Moltke: er wisse nicht,'was
Deutschland mit einem eroberten Stück von Frankreich oder Nußland an¬
fangen solle, den Schluß zu ziehen, daß Moltke das nicht genannte Oestreich
erobern wolle. - Gegen diese Folgerung verschwindet freilich die Kühnheit der
vorhergehenden. Und doch wurde dieser erstaunliche Einfall dem Redner ourch
einen andern Redner seiner Fraktion nachgesprochen. Trotz aller dieser
Wunderlichkeiten und Uebertreibungen eines enttäuschten Pessimismus lag in
dieser Rede ein Zug nach Befriedigung wahrhafter Bedürfnisse, der Sympathie
einflößen konnte. Es ist richtig, wenn Herr Jörg erklärte, daß die sociale
Frage eine internationale sei und nicht zu lösen bei einem gegenseitigen Kriegs-
zustand der europäischen Staaten. Aber sein Pessimismus übertreibt die Be-
sorgniß der Dauer eines solchen Zustandes. Je einmüthiger Deutschland


befestigt. Ader heute mit dem Absolutismus fraternisiren, wenn er Rom ein
freundliches Gesicht zeigt, morgen mit der Revolution: das zeigt den Ultra¬
montanismus in dem Lichte, das die Geschichtserkenntniß längst auf ihn ge¬
worfen hat, in dem Lichte einer herrschsüchtigen Tendenz, für die alle sittlichen
Kräfte lediglich Mittel sind zum Gebräuchen oder zum Wegwerfen, zum
Bevorzugen oder zum Zerstören, je nachdem sie gerade zugeneigt oder ab¬
geneigt stehen. Eine Tendenz, die so verfährt, kann aber in sich selbst keine
sittliche sein; wäre sie eine solche, so müßte sie sich allem Sittlichen an¬
schließen.

Wenden wir uns wieder zu Herrn Jörg. Er behauptete dasselbe wie
Laster, nur nicht mit demselben Eindruck der Naivität: einen illoyalen Reichs¬
tag könne es nicht geben. Als ob das System der gegen einander relativ
selbständigen Staatsgewalten jemals in Anwendung geblieben wäre, wenn
man die wunderbare Entdeckung gemacht hätte, daß eine einzelne Staats¬
gewalt bei Ausstattung mit schrankenloser Macht immer beseelt bliebe von
der reinsten Absicht und der richtigen Einsicht! Will uns Herr Jörg glauben
machen, daß er an diese Entdeckung glaubt? Um den Glauben zu finden,
daß man so etwas glaube, muß man Erlebnisse einer Mannesseele geschrieben
haben. — Herr Jörg versicherte weiter, wenn ein Staatsmann nach drei
Kriegen sein Ziel noch immer zu vertheidigen genöthigt sei, so müsse er es
falsch gesucht haben. Was ist das für eine historische Anschauung? Die
Unabhängigkeit der englischen Staats- und Seemacht wurde unter Elisabeth
gegründet. Wie viel Kriege hat es seitdem geführt? Es ist noch nicht
gesagt, ob und wie viel Kriege Deutschland für die Behauptung seiner neu
errungenen Stellung wird zu führen haben. Daraus aber, daß wir uns in
der Centralposition von Europa als unabhängiges und geeintes Volk nicht
waffenlos niederlassen dürfen, den Schluß zu ziehen, die Unabhängigkeit und
Einheit sei ein falsches Ziel gewesen, ist doch allzu sonderbar. Herr Jörg
ging soweit, aus der Aeußerung des Grafen Moltke: er wisse nicht,'was
Deutschland mit einem eroberten Stück von Frankreich oder Nußland an¬
fangen solle, den Schluß zu ziehen, daß Moltke das nicht genannte Oestreich
erobern wolle. - Gegen diese Folgerung verschwindet freilich die Kühnheit der
vorhergehenden. Und doch wurde dieser erstaunliche Einfall dem Redner ourch
einen andern Redner seiner Fraktion nachgesprochen. Trotz aller dieser
Wunderlichkeiten und Uebertreibungen eines enttäuschten Pessimismus lag in
dieser Rede ein Zug nach Befriedigung wahrhafter Bedürfnisse, der Sympathie
einflößen konnte. Es ist richtig, wenn Herr Jörg erklärte, daß die sociale
Frage eine internationale sei und nicht zu lösen bei einem gegenseitigen Kriegs-
zustand der europäischen Staaten. Aber sein Pessimismus übertreibt die Be-
sorgniß der Dauer eines solchen Zustandes. Je einmüthiger Deutschland


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_131175/191>, abgerufen am 19.05.2024.