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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band.

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Fuge Le vitam venturi deutlich ausgesprochen hatte, nur in ihm steigern.
Das Werk war ebenfalls nur ein verlorener Pfeil, den er nach dem Wahren
und Ganzen in seiner Kunst, soweit er dasselbe zu erreichen vermochte, ab¬
geschossen. Aber er zeigte ihm in ernster Versenkung das Ziel, das sonst wohl
in dem leeren Gewirre modernen Allerweltempfindens auch diesem hohen Geiste
sich verhüllt hätte. So sehnte er sich nach unbefangener Erfassung des Hohen
und Ganzen, dessen Theile er hier in der Hand gehabt, ohne sie ganz zu¬
sammenfassen zu können. "Berühmte Künstler sind befangen stets, drum ihre
ersten Werke die besten, obwohl aus dunklem Schooß sie sprossen", schreibt
merkwürdiger Weise er selbst in diesem Frühjahr 1820 in sein Cvnversations
duch. Er sehnt sich nach diesem dunklen Schooß des unmittelbaren Em¬
pfindens, das ihm bei diesem Hervortauchen ans Licht des Gedankens verloren
gegangen oder doch bei dem steten Herumdeuten an dem ihm im Grunde
fremd bleibenden heiligen Gegenstande getrübt war. Und wirklich finden wir
ihn, nachdem fast 2 Jahre inneren Brachliegens vorübergegangen -- denn die
1820--22 entstandenen Claviersonaten 0p. 109, 110, 111 können bei solcher
Betrachtung nicht mitzählen --, von neuem kräftig bei "seiner Weise". Die
mehrerwähnte Neunte Symphonie, das größte Werk seines Lebens, war
in der vollen Würde der Erscheinung und energischen Aussprache der Em¬
pfindungen und Ideen, die Beethoven von der Welt hatte, zugleich ein Re¬
sultat des Ernstes, mit dem er an dieser Messenarbeit gewirkt hatte. Ohne
diese letztere würden wir auch die geistige Erhebung und wahrhafte künstlerische
Hoheit und Freiheit, die sich besonders in den 3 ersten Sätzen jenes instru¬
mentalen Werkes zeigt, schwerlich besitzen. Die Rissa. solenms war ein kräf¬
tiger Aufschritt zu den Höhen der Kunst, auf denen wir Beethoven in dieser
Neunten Symphonie wandeln sehen und die ihn, wie dies bereits anderswo
ausgeführt worden, an dem geistigen Leben unserer Zeit einen bedeutsamen
Antheil gegeben haben. Darum lohnte es sich, ihn in diesen künstlerischen
und gewissermaßen psychologischen Vorbereitungen ebenfalls genau zu verfolgen.
Die Rissa solöllms ist in der That ein Stück nicht blos aus Beethoven's
Leben, sondern zugleich aus dem geistigen Suchen und Streben seiner und
unserer Zeit.*)





Die Freunde der Sache habe ich wegen näheren Aufschlusses über die Sache auf den
demnächst erscheinenden 3. Band meiner Biographie des Meisters zu verweisen, wo namentlich
auch erst die Beurtheilung der einzelnen Theile der Messe gegeben werden kann, die natürlich
hier zu weit geführt haben würde.

Fuge Le vitam venturi deutlich ausgesprochen hatte, nur in ihm steigern.
Das Werk war ebenfalls nur ein verlorener Pfeil, den er nach dem Wahren
und Ganzen in seiner Kunst, soweit er dasselbe zu erreichen vermochte, ab¬
geschossen. Aber er zeigte ihm in ernster Versenkung das Ziel, das sonst wohl
in dem leeren Gewirre modernen Allerweltempfindens auch diesem hohen Geiste
sich verhüllt hätte. So sehnte er sich nach unbefangener Erfassung des Hohen
und Ganzen, dessen Theile er hier in der Hand gehabt, ohne sie ganz zu¬
sammenfassen zu können. „Berühmte Künstler sind befangen stets, drum ihre
ersten Werke die besten, obwohl aus dunklem Schooß sie sprossen", schreibt
merkwürdiger Weise er selbst in diesem Frühjahr 1820 in sein Cvnversations
duch. Er sehnt sich nach diesem dunklen Schooß des unmittelbaren Em¬
pfindens, das ihm bei diesem Hervortauchen ans Licht des Gedankens verloren
gegangen oder doch bei dem steten Herumdeuten an dem ihm im Grunde
fremd bleibenden heiligen Gegenstande getrübt war. Und wirklich finden wir
ihn, nachdem fast 2 Jahre inneren Brachliegens vorübergegangen — denn die
1820—22 entstandenen Claviersonaten 0p. 109, 110, 111 können bei solcher
Betrachtung nicht mitzählen —, von neuem kräftig bei „seiner Weise". Die
mehrerwähnte Neunte Symphonie, das größte Werk seines Lebens, war
in der vollen Würde der Erscheinung und energischen Aussprache der Em¬
pfindungen und Ideen, die Beethoven von der Welt hatte, zugleich ein Re¬
sultat des Ernstes, mit dem er an dieser Messenarbeit gewirkt hatte. Ohne
diese letztere würden wir auch die geistige Erhebung und wahrhafte künstlerische
Hoheit und Freiheit, die sich besonders in den 3 ersten Sätzen jenes instru¬
mentalen Werkes zeigt, schwerlich besitzen. Die Rissa. solenms war ein kräf¬
tiger Aufschritt zu den Höhen der Kunst, auf denen wir Beethoven in dieser
Neunten Symphonie wandeln sehen und die ihn, wie dies bereits anderswo
ausgeführt worden, an dem geistigen Leben unserer Zeit einen bedeutsamen
Antheil gegeben haben. Darum lohnte es sich, ihn in diesen künstlerischen
und gewissermaßen psychologischen Vorbereitungen ebenfalls genau zu verfolgen.
Die Rissa solöllms ist in der That ein Stück nicht blos aus Beethoven's
Leben, sondern zugleich aus dem geistigen Suchen und Streben seiner und
unserer Zeit.*)





Die Freunde der Sache habe ich wegen näheren Aufschlusses über die Sache auf den
demnächst erscheinenden 3. Band meiner Biographie des Meisters zu verweisen, wo namentlich
auch erst die Beurtheilung der einzelnen Theile der Messe gegeben werden kann, die natürlich
hier zu weit geführt haben würde.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_131175/270>, abgerufen am 19.05.2024.