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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band.

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dritten Stockwerkes ungefähr je 22 , in den Kellerwohnungen 28, in den 4
und mehr Treppen hoch gelegenen Wohnungen starben über 28. Einen ähn¬
lichen Einfluß der Höhenlage der Wohnungen auf die Kindersterblichkeit habe
ich auch an anderen Orten kennen gelernt. Virchow*) nennt diese Thatsache
eine "überraschende"; sie ist dies indeß nur dann, wenn man die Ansicht hegt,
daß das Bewohnen der hochgelegenen Stockwerke in Beziehung auf die Rein-
heit der Luft das gesündeste sei. Diese Ansicht ist thatsächlich unrichtig; denn
die Luft in denselben ist im Allgemeinen schlechter als die in den tiefer gele¬
genen Stockwerken. Den Grund dafür finde ich hauptsächlich darin, daß die
durch das Bewohnen ,der tiefer gelegenen Stockwerke verschlechterte Luft aus
diesen in die höheren eindringt. Dies kann nicht auffallen, wenn man die
Durchlässigkeit der Fußböden und die mangelhaften Ventilationseinrichtungen
der Häuser, besonders der Korridore, berücksichtigt. Auf diese Weise athmen
die Bewohner der höchstgelegenen Stockwerke die schlechteste Luft ein. Am
gefährlichsten muß dieselbe den dort wohnenden Kindern sein, weil in dem
frühesten Alter die Lebenserhaltung mehr als in dem späteren von dem Athmen
reiner Luft abhängt. Die größere Beschwerlichkeit Kinder aus einem hoch¬
gelegenen Stockwerke auf die Straße oder in das Freie zu tragen hat über¬
dies zur Folge, daß dieselben um so andauernder der schlechten Luft in der
Wohnung ausgesetzt bleiben.

Wenn wir uns auf diese Weise die große Kindersterblichkeit in den
hochgelegenen Stockwerken erklären, müssen wir annehmen, daß die Sterblich¬
keit sich verringern werde, sobald eine genügende Ventilation der Häuser,
namentlich der Korridore, eingeführt sein wird; denn alsdann wird die un¬
reine Luft aus jedem Stockwerke abgeführt werden und nicht in das höher
gelegene Stockwerk eindringen. Auch aus dieser Rücksicht erachte ich es für
nothwendig, daß bei der Prüfung des Bauplanes von Wohnhäusern und
bei der Bauabnahme nicht nur ein Bautechniker, sondern auch ein ärztlicher
Gesundheitsbeamter zugezogen werde.

Noch ein anderer Grund bestimmt die öffentliche Gesundheitspflege
gegen das Bewohnen hochgelegener Stockwerke sich auszusprechen. Die Zahl
der Todtgeburten ist nämlich in denselben viel größer als sonst. So betrug
z. B. in Berlin die Zahl der Todtgeburten bei 1000 Bewohnern überhaupt
1.6, in den Kellerwohnungen 1.6, in dem Erdgeschosse, ersten, zweiten und
dritten Stockwerke durchschnittlich 1.4, in dem 4. Stockwerke und in Woh¬
nungen, zu denen man noch höher hinaufsteigen muß, betrug die Zahl der
Todtgeburten 2.1 pro wille.

Aus diesen und anderen Ursachen legt die öffentliche Gesundheitspflege



"> Rudolph Virchow, Reinigung und Entwässerung Berlins. Berlin 1873. S. 67.
Grenzboten II. 1874. 47

dritten Stockwerkes ungefähr je 22 , in den Kellerwohnungen 28, in den 4
und mehr Treppen hoch gelegenen Wohnungen starben über 28. Einen ähn¬
lichen Einfluß der Höhenlage der Wohnungen auf die Kindersterblichkeit habe
ich auch an anderen Orten kennen gelernt. Virchow*) nennt diese Thatsache
eine „überraschende"; sie ist dies indeß nur dann, wenn man die Ansicht hegt,
daß das Bewohnen der hochgelegenen Stockwerke in Beziehung auf die Rein-
heit der Luft das gesündeste sei. Diese Ansicht ist thatsächlich unrichtig; denn
die Luft in denselben ist im Allgemeinen schlechter als die in den tiefer gele¬
genen Stockwerken. Den Grund dafür finde ich hauptsächlich darin, daß die
durch das Bewohnen ,der tiefer gelegenen Stockwerke verschlechterte Luft aus
diesen in die höheren eindringt. Dies kann nicht auffallen, wenn man die
Durchlässigkeit der Fußböden und die mangelhaften Ventilationseinrichtungen
der Häuser, besonders der Korridore, berücksichtigt. Auf diese Weise athmen
die Bewohner der höchstgelegenen Stockwerke die schlechteste Luft ein. Am
gefährlichsten muß dieselbe den dort wohnenden Kindern sein, weil in dem
frühesten Alter die Lebenserhaltung mehr als in dem späteren von dem Athmen
reiner Luft abhängt. Die größere Beschwerlichkeit Kinder aus einem hoch¬
gelegenen Stockwerke auf die Straße oder in das Freie zu tragen hat über¬
dies zur Folge, daß dieselben um so andauernder der schlechten Luft in der
Wohnung ausgesetzt bleiben.

Wenn wir uns auf diese Weise die große Kindersterblichkeit in den
hochgelegenen Stockwerken erklären, müssen wir annehmen, daß die Sterblich¬
keit sich verringern werde, sobald eine genügende Ventilation der Häuser,
namentlich der Korridore, eingeführt sein wird; denn alsdann wird die un¬
reine Luft aus jedem Stockwerke abgeführt werden und nicht in das höher
gelegene Stockwerk eindringen. Auch aus dieser Rücksicht erachte ich es für
nothwendig, daß bei der Prüfung des Bauplanes von Wohnhäusern und
bei der Bauabnahme nicht nur ein Bautechniker, sondern auch ein ärztlicher
Gesundheitsbeamter zugezogen werde.

Noch ein anderer Grund bestimmt die öffentliche Gesundheitspflege
gegen das Bewohnen hochgelegener Stockwerke sich auszusprechen. Die Zahl
der Todtgeburten ist nämlich in denselben viel größer als sonst. So betrug
z. B. in Berlin die Zahl der Todtgeburten bei 1000 Bewohnern überhaupt
1.6, in den Kellerwohnungen 1.6, in dem Erdgeschosse, ersten, zweiten und
dritten Stockwerke durchschnittlich 1.4, in dem 4. Stockwerke und in Woh¬
nungen, zu denen man noch höher hinaufsteigen muß, betrug die Zahl der
Todtgeburten 2.1 pro wille.

Aus diesen und anderen Ursachen legt die öffentliche Gesundheitspflege



"> Rudolph Virchow, Reinigung und Entwässerung Berlins. Berlin 1873. S. 67.
Grenzboten II. 1874. 47
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[0377] dritten Stockwerkes ungefähr je 22 , in den Kellerwohnungen 28, in den 4 und mehr Treppen hoch gelegenen Wohnungen starben über 28. Einen ähn¬ lichen Einfluß der Höhenlage der Wohnungen auf die Kindersterblichkeit habe ich auch an anderen Orten kennen gelernt. Virchow*) nennt diese Thatsache eine „überraschende"; sie ist dies indeß nur dann, wenn man die Ansicht hegt, daß das Bewohnen der hochgelegenen Stockwerke in Beziehung auf die Rein- heit der Luft das gesündeste sei. Diese Ansicht ist thatsächlich unrichtig; denn die Luft in denselben ist im Allgemeinen schlechter als die in den tiefer gele¬ genen Stockwerken. Den Grund dafür finde ich hauptsächlich darin, daß die durch das Bewohnen ,der tiefer gelegenen Stockwerke verschlechterte Luft aus diesen in die höheren eindringt. Dies kann nicht auffallen, wenn man die Durchlässigkeit der Fußböden und die mangelhaften Ventilationseinrichtungen der Häuser, besonders der Korridore, berücksichtigt. Auf diese Weise athmen die Bewohner der höchstgelegenen Stockwerke die schlechteste Luft ein. Am gefährlichsten muß dieselbe den dort wohnenden Kindern sein, weil in dem frühesten Alter die Lebenserhaltung mehr als in dem späteren von dem Athmen reiner Luft abhängt. Die größere Beschwerlichkeit Kinder aus einem hoch¬ gelegenen Stockwerke auf die Straße oder in das Freie zu tragen hat über¬ dies zur Folge, daß dieselben um so andauernder der schlechten Luft in der Wohnung ausgesetzt bleiben. Wenn wir uns auf diese Weise die große Kindersterblichkeit in den hochgelegenen Stockwerken erklären, müssen wir annehmen, daß die Sterblich¬ keit sich verringern werde, sobald eine genügende Ventilation der Häuser, namentlich der Korridore, eingeführt sein wird; denn alsdann wird die un¬ reine Luft aus jedem Stockwerke abgeführt werden und nicht in das höher gelegene Stockwerk eindringen. Auch aus dieser Rücksicht erachte ich es für nothwendig, daß bei der Prüfung des Bauplanes von Wohnhäusern und bei der Bauabnahme nicht nur ein Bautechniker, sondern auch ein ärztlicher Gesundheitsbeamter zugezogen werde. Noch ein anderer Grund bestimmt die öffentliche Gesundheitspflege gegen das Bewohnen hochgelegener Stockwerke sich auszusprechen. Die Zahl der Todtgeburten ist nämlich in denselben viel größer als sonst. So betrug z. B. in Berlin die Zahl der Todtgeburten bei 1000 Bewohnern überhaupt 1.6, in den Kellerwohnungen 1.6, in dem Erdgeschosse, ersten, zweiten und dritten Stockwerke durchschnittlich 1.4, in dem 4. Stockwerke und in Woh¬ nungen, zu denen man noch höher hinaufsteigen muß, betrug die Zahl der Todtgeburten 2.1 pro wille. Aus diesen und anderen Ursachen legt die öffentliche Gesundheitspflege "> Rudolph Virchow, Reinigung und Entwässerung Berlins. Berlin 1873. S. 67. Grenzboten II. 1874. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_131175/377>, abgerufen am 29.05.2024.