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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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ein verdienstliches Werk scheinen, den "demoralisirenden Einfluß der höheren
Stände" zu geißeln. Schade nur, daß er sichtlich mit immer größerem Be¬
hagen schildert, je bedenklicher die Lage wird. Im Uebrigen ist Schweitzer
Meister in der Situationskomik, und so sind auch seine "Darwinianer" recht
amüsant. Nur dürfen sie nicht "Lustspiel" genannt werden, denn sie sind
eine Posse.

Viel Anziehungskraft hat in letzter Zeit das Stadttheater bewährt. In
Laube's "Böse Zungen" begeisterte Frl. Veneta, in Benedix' "Aschenbrödel"
Frl. Both das Auditorium. Hauptmagnet aber war und ist noch das Gast¬
spiel des Herrn Emmerich Robert. In diesem Schauspieler haben wir einen
durch und durch genialen Künstler vor uns. Alle Achtung vor solch einem
Hamlet! Wie viele verschiedene Hamlettypen sind bereits über die Bühne
gegangen! Die Einen haben aus der Rolle einen systematischen Pessimisten,
die Andern einen haarspaltenden Dialektiker gemacht. Emmerich Robert ist
frei von jeder Schablone, mit erstaunlich feinem psychologischen Verständniß
modelirt er den schwankenden, zerrütteten Charakter des Dänenprinzen nach
den wechselnden Eindrücken und giebt so eine zwar realistische, aber durchweg,
auch in den Momenten höchsten Affects, von schönem Ebenmaß getragene
Kunstleistung von erschütternder Wahrheit. Nicht minder bedeutend ist sein
Humbert in Ponsard's "Der verliebte Löwe." Da ist Alles aufs Feinste
ausgearbeitet, ohne jedoch einen Augenblick den Eindruck des Gekünstelten zu
machen. Möglich, daß diese Ausarbeitung hie und da der frischen Unmittelbar¬
keit einigen Eintrag thut. Als Humbert in dem ebengenannten Stücke, wie
als Uriel Aeosta, hat Robert Momente, wo sich uns dies Gefühl aufdrängt.
Aber wir nehmen diesen kleinen Mangel gern in den Kauf, wenn er die
Bedingung ist für die plastisch-vollendete Ausgestaltung der Charaktere. Als
Held in dem Gutzkow'schen Trauerspiel zeigte der Künstler in der Scene mit
der alten Esther, die durch Frl. Veneta vortrefflich gegeben wurde, eine Tragik
von unwiderstehlicher Gewalt. Es ist bedauerlich, ja fast unbegreiflich, daß
unsere Hofbühne, der Herr Robert vor einigen Jahren angehörte, eine solche
Kraft nicht zu halten wußte. Möge sie jetzt wenigstens bestrebt sein, sie
X- X- wiederzugewinnen!




ein verdienstliches Werk scheinen, den „demoralisirenden Einfluß der höheren
Stände" zu geißeln. Schade nur, daß er sichtlich mit immer größerem Be¬
hagen schildert, je bedenklicher die Lage wird. Im Uebrigen ist Schweitzer
Meister in der Situationskomik, und so sind auch seine „Darwinianer" recht
amüsant. Nur dürfen sie nicht „Lustspiel" genannt werden, denn sie sind
eine Posse.

Viel Anziehungskraft hat in letzter Zeit das Stadttheater bewährt. In
Laube's „Böse Zungen" begeisterte Frl. Veneta, in Benedix' „Aschenbrödel"
Frl. Both das Auditorium. Hauptmagnet aber war und ist noch das Gast¬
spiel des Herrn Emmerich Robert. In diesem Schauspieler haben wir einen
durch und durch genialen Künstler vor uns. Alle Achtung vor solch einem
Hamlet! Wie viele verschiedene Hamlettypen sind bereits über die Bühne
gegangen! Die Einen haben aus der Rolle einen systematischen Pessimisten,
die Andern einen haarspaltenden Dialektiker gemacht. Emmerich Robert ist
frei von jeder Schablone, mit erstaunlich feinem psychologischen Verständniß
modelirt er den schwankenden, zerrütteten Charakter des Dänenprinzen nach
den wechselnden Eindrücken und giebt so eine zwar realistische, aber durchweg,
auch in den Momenten höchsten Affects, von schönem Ebenmaß getragene
Kunstleistung von erschütternder Wahrheit. Nicht minder bedeutend ist sein
Humbert in Ponsard's „Der verliebte Löwe." Da ist Alles aufs Feinste
ausgearbeitet, ohne jedoch einen Augenblick den Eindruck des Gekünstelten zu
machen. Möglich, daß diese Ausarbeitung hie und da der frischen Unmittelbar¬
keit einigen Eintrag thut. Als Humbert in dem ebengenannten Stücke, wie
als Uriel Aeosta, hat Robert Momente, wo sich uns dies Gefühl aufdrängt.
Aber wir nehmen diesen kleinen Mangel gern in den Kauf, wenn er die
Bedingung ist für die plastisch-vollendete Ausgestaltung der Charaktere. Als
Held in dem Gutzkow'schen Trauerspiel zeigte der Künstler in der Scene mit
der alten Esther, die durch Frl. Veneta vortrefflich gegeben wurde, eine Tragik
von unwiderstehlicher Gewalt. Es ist bedauerlich, ja fast unbegreiflich, daß
unsere Hofbühne, der Herr Robert vor einigen Jahren angehörte, eine solche
Kraft nicht zu halten wußte. Möge sie jetzt wenigstens bestrebt sein, sie
X- X- wiederzugewinnen!




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[0392] ein verdienstliches Werk scheinen, den „demoralisirenden Einfluß der höheren Stände" zu geißeln. Schade nur, daß er sichtlich mit immer größerem Be¬ hagen schildert, je bedenklicher die Lage wird. Im Uebrigen ist Schweitzer Meister in der Situationskomik, und so sind auch seine „Darwinianer" recht amüsant. Nur dürfen sie nicht „Lustspiel" genannt werden, denn sie sind eine Posse. Viel Anziehungskraft hat in letzter Zeit das Stadttheater bewährt. In Laube's „Böse Zungen" begeisterte Frl. Veneta, in Benedix' „Aschenbrödel" Frl. Both das Auditorium. Hauptmagnet aber war und ist noch das Gast¬ spiel des Herrn Emmerich Robert. In diesem Schauspieler haben wir einen durch und durch genialen Künstler vor uns. Alle Achtung vor solch einem Hamlet! Wie viele verschiedene Hamlettypen sind bereits über die Bühne gegangen! Die Einen haben aus der Rolle einen systematischen Pessimisten, die Andern einen haarspaltenden Dialektiker gemacht. Emmerich Robert ist frei von jeder Schablone, mit erstaunlich feinem psychologischen Verständniß modelirt er den schwankenden, zerrütteten Charakter des Dänenprinzen nach den wechselnden Eindrücken und giebt so eine zwar realistische, aber durchweg, auch in den Momenten höchsten Affects, von schönem Ebenmaß getragene Kunstleistung von erschütternder Wahrheit. Nicht minder bedeutend ist sein Humbert in Ponsard's „Der verliebte Löwe." Da ist Alles aufs Feinste ausgearbeitet, ohne jedoch einen Augenblick den Eindruck des Gekünstelten zu machen. Möglich, daß diese Ausarbeitung hie und da der frischen Unmittelbar¬ keit einigen Eintrag thut. Als Humbert in dem ebengenannten Stücke, wie als Uriel Aeosta, hat Robert Momente, wo sich uns dies Gefühl aufdrängt. Aber wir nehmen diesen kleinen Mangel gern in den Kauf, wenn er die Bedingung ist für die plastisch-vollendete Ausgestaltung der Charaktere. Als Held in dem Gutzkow'schen Trauerspiel zeigte der Künstler in der Scene mit der alten Esther, die durch Frl. Veneta vortrefflich gegeben wurde, eine Tragik von unwiderstehlicher Gewalt. Es ist bedauerlich, ja fast unbegreiflich, daß unsere Hofbühne, der Herr Robert vor einigen Jahren angehörte, eine solche Kraft nicht zu halten wußte. Möge sie jetzt wenigstens bestrebt sein, sie X- X- wiederzugewinnen!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/392>, abgerufen am 10.06.2024.