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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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torität durch Luther's Auftreten endgültig gesprengt ist, indem aus seinem
Werke mehrere verschiedengeartete und in ihrer räumlichen Ausdehnung be¬
schränkte Kirchen neben einander entsprungen sind, so ist damit die Freiheit
des menschlichen Geistes von dem Machtspruche jener mittelalterlichen Kirche
faktisch gesichert und das Prinzip der ausschließlich und unbeschränkt geltenden
Autorität der päpstlichen Weltkirche faktisch durchbrochen und endgültig
beseitigt.

Die Folgen dieser Wendung für das staatliche Leben der Nationen er¬
heischen eine besondere Betonung. Der Staat ist durch die Reformation dem
maßgebenden Einflüsse der Kirche entrückt. Mochte im Mittelalter zeitweilig
einem einzelnen Lande einmal eine Emancipation von Kirche und Papstmacht
geglückt sein, immer drohte der Rückfall unter das alte Gebot, unter die
überlieferte Aufficht und Herrschaft der Kirche und ihres Papstes: das An¬
sehen der göttlichen Heilsanstalt, von deren Gunst oder Ungunst das Seelen¬
heil der Menschen abhing, mußte schließlich jeden Widerspruch zu Boden
schmettern. Erst seit der Glaube der Völker an diese Kirche und diesen Papst
erschüttert, lebte das Gefühl staatlicher Selbständigkeit und staatlichen Eigen¬
lebens auf. Erst seit der Reformation ist sich der Staat seines eigenen
Charakters und seiner eigenen Aufgaben deutlich und immer deutlicher bewußt
geworden: die freie Selbständigkeit des staatlichen neben dem kirchlichen Leben
ist erst seit der Reformation Möglichkeit und Wirklichkeit geworden.

Nicht eine unmittelbare Frucht' der Reformation ist die Toleranz zu
nennen; -- diese Behauptung würde einen großen Irrthum, sei es historischer
Unwissenheit oder sei es tendenziöser Geschichtsmacherei, einschließen; -- aber
nur auf einem Boden, über den die ausdauernde und stetige Arbeit der refor-
matorischen Ideen hinweggegangen ist, konnte die schönste Blüthe modernen
Geisteslebens, die religiöse Toleranz, keimen und erwachsen Md gedeihen. Die
unparteiische staatliche Behandlung der verschiedenen Religionen und Kirchen,
der heute unser Staatsleben nachstrebt, auch sie ist ein später Sprößling der
Saat, die einstens Luther ausgestreut hat. So ist seine Reformation ein
Wohlthäter geworden an allen Menschen, auch an den Bekennern der Papst¬
kirche, seinen prinzipiellen Widersachern und Hassern.

So lange unser Staat an dieser Errungenschaft der Reformation festhält,
so lange ist nicht zu besorgen, daß die Kirche und das Papstthum des Mit¬
telalters die Herrschaft über unser Volk aufs neue mit ausschließlicher und ma߬
gebender Bedeutung an sich reißen wird. Trotz aller der scheinbaren Erfolge
päpstlicher Propaganda, trotz aller der überraschenden Siege des Papstthumes
in unserem Jahrhundert wird diese Errungenschaft aus der Reformationszeit
der Fels sein, an welchem die tobenden Wogen eines neu ausgelebten mittel¬
alterlichen Kirchenwesens endgültig zerschellen und zerfließen werden.




torität durch Luther's Auftreten endgültig gesprengt ist, indem aus seinem
Werke mehrere verschiedengeartete und in ihrer räumlichen Ausdehnung be¬
schränkte Kirchen neben einander entsprungen sind, so ist damit die Freiheit
des menschlichen Geistes von dem Machtspruche jener mittelalterlichen Kirche
faktisch gesichert und das Prinzip der ausschließlich und unbeschränkt geltenden
Autorität der päpstlichen Weltkirche faktisch durchbrochen und endgültig
beseitigt.

Die Folgen dieser Wendung für das staatliche Leben der Nationen er¬
heischen eine besondere Betonung. Der Staat ist durch die Reformation dem
maßgebenden Einflüsse der Kirche entrückt. Mochte im Mittelalter zeitweilig
einem einzelnen Lande einmal eine Emancipation von Kirche und Papstmacht
geglückt sein, immer drohte der Rückfall unter das alte Gebot, unter die
überlieferte Aufficht und Herrschaft der Kirche und ihres Papstes: das An¬
sehen der göttlichen Heilsanstalt, von deren Gunst oder Ungunst das Seelen¬
heil der Menschen abhing, mußte schließlich jeden Widerspruch zu Boden
schmettern. Erst seit der Glaube der Völker an diese Kirche und diesen Papst
erschüttert, lebte das Gefühl staatlicher Selbständigkeit und staatlichen Eigen¬
lebens auf. Erst seit der Reformation ist sich der Staat seines eigenen
Charakters und seiner eigenen Aufgaben deutlich und immer deutlicher bewußt
geworden: die freie Selbständigkeit des staatlichen neben dem kirchlichen Leben
ist erst seit der Reformation Möglichkeit und Wirklichkeit geworden.

Nicht eine unmittelbare Frucht' der Reformation ist die Toleranz zu
nennen; — diese Behauptung würde einen großen Irrthum, sei es historischer
Unwissenheit oder sei es tendenziöser Geschichtsmacherei, einschließen; — aber
nur auf einem Boden, über den die ausdauernde und stetige Arbeit der refor-
matorischen Ideen hinweggegangen ist, konnte die schönste Blüthe modernen
Geisteslebens, die religiöse Toleranz, keimen und erwachsen Md gedeihen. Die
unparteiische staatliche Behandlung der verschiedenen Religionen und Kirchen,
der heute unser Staatsleben nachstrebt, auch sie ist ein später Sprößling der
Saat, die einstens Luther ausgestreut hat. So ist seine Reformation ein
Wohlthäter geworden an allen Menschen, auch an den Bekennern der Papst¬
kirche, seinen prinzipiellen Widersachern und Hassern.

So lange unser Staat an dieser Errungenschaft der Reformation festhält,
so lange ist nicht zu besorgen, daß die Kirche und das Papstthum des Mit¬
telalters die Herrschaft über unser Volk aufs neue mit ausschließlicher und ma߬
gebender Bedeutung an sich reißen wird. Trotz aller der scheinbaren Erfolge
päpstlicher Propaganda, trotz aller der überraschenden Siege des Papstthumes
in unserem Jahrhundert wird diese Errungenschaft aus der Reformationszeit
der Fels sein, an welchem die tobenden Wogen eines neu ausgelebten mittel¬
alterlichen Kirchenwesens endgültig zerschellen und zerfließen werden.




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[0378] torität durch Luther's Auftreten endgültig gesprengt ist, indem aus seinem Werke mehrere verschiedengeartete und in ihrer räumlichen Ausdehnung be¬ schränkte Kirchen neben einander entsprungen sind, so ist damit die Freiheit des menschlichen Geistes von dem Machtspruche jener mittelalterlichen Kirche faktisch gesichert und das Prinzip der ausschließlich und unbeschränkt geltenden Autorität der päpstlichen Weltkirche faktisch durchbrochen und endgültig beseitigt. Die Folgen dieser Wendung für das staatliche Leben der Nationen er¬ heischen eine besondere Betonung. Der Staat ist durch die Reformation dem maßgebenden Einflüsse der Kirche entrückt. Mochte im Mittelalter zeitweilig einem einzelnen Lande einmal eine Emancipation von Kirche und Papstmacht geglückt sein, immer drohte der Rückfall unter das alte Gebot, unter die überlieferte Aufficht und Herrschaft der Kirche und ihres Papstes: das An¬ sehen der göttlichen Heilsanstalt, von deren Gunst oder Ungunst das Seelen¬ heil der Menschen abhing, mußte schließlich jeden Widerspruch zu Boden schmettern. Erst seit der Glaube der Völker an diese Kirche und diesen Papst erschüttert, lebte das Gefühl staatlicher Selbständigkeit und staatlichen Eigen¬ lebens auf. Erst seit der Reformation ist sich der Staat seines eigenen Charakters und seiner eigenen Aufgaben deutlich und immer deutlicher bewußt geworden: die freie Selbständigkeit des staatlichen neben dem kirchlichen Leben ist erst seit der Reformation Möglichkeit und Wirklichkeit geworden. Nicht eine unmittelbare Frucht' der Reformation ist die Toleranz zu nennen; — diese Behauptung würde einen großen Irrthum, sei es historischer Unwissenheit oder sei es tendenziöser Geschichtsmacherei, einschließen; — aber nur auf einem Boden, über den die ausdauernde und stetige Arbeit der refor- matorischen Ideen hinweggegangen ist, konnte die schönste Blüthe modernen Geisteslebens, die religiöse Toleranz, keimen und erwachsen Md gedeihen. Die unparteiische staatliche Behandlung der verschiedenen Religionen und Kirchen, der heute unser Staatsleben nachstrebt, auch sie ist ein später Sprößling der Saat, die einstens Luther ausgestreut hat. So ist seine Reformation ein Wohlthäter geworden an allen Menschen, auch an den Bekennern der Papst¬ kirche, seinen prinzipiellen Widersachern und Hassern. So lange unser Staat an dieser Errungenschaft der Reformation festhält, so lange ist nicht zu besorgen, daß die Kirche und das Papstthum des Mit¬ telalters die Herrschaft über unser Volk aufs neue mit ausschließlicher und ma߬ gebender Bedeutung an sich reißen wird. Trotz aller der scheinbaren Erfolge päpstlicher Propaganda, trotz aller der überraschenden Siege des Papstthumes in unserem Jahrhundert wird diese Errungenschaft aus der Reformationszeit der Fels sein, an welchem die tobenden Wogen eines neu ausgelebten mittel¬ alterlichen Kirchenwesens endgültig zerschellen und zerfließen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/378>, abgerufen am 27.05.2024.