Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

(der Prudence Palfrey u. s. w. enthielt) einführten, haben wir uns eingehend
über den Charakter seiner Schreibweise, namentlich im Vergleich zu seinem
Landsmann Bret Harte ausgesprochen. Es ist wohl gestattet, hier auf jene
Ausführungen zurückzuverweisen; um so mehr, als sie durch den neuerschienenen
Band nur bestätigt werden. Aldrich zeigt sich auch hier als ein psychologischer
Naturalist von hervorragendster Bedeutung. Sprache, Handlung, Charaktere
können kaum natürlicher gedacht und behandelt werden, als in diesem Bande.
Und doch gehört ein gereiftes, reicherfahrenes Mannesleben dazu; ein Mannes¬
leben, das in Amerika seine Prüfungen und Erfahrungen bestand, um so
wahr, so sicher und heiter zu erzählen, wie Aldrich hier erzählt.

Die "Geschichte eines bösen Buben" ist nichts weniger als etwa eine
Kindergeschichte für Kinder -- obwohl sie, wie der Verfasser zu bemerken
Gelegenheit hatte von den Landsleuten des Dichters in sehr jungen
Jahren gelesen wird. Sie wird ebenso wie die Schriften unsres Rudolf
Reichenau*) "Aus unsern vier Wänden" in ihrer ganzen Tiefe und Erkennt¬
niß nur von einem reiferen Alter gewürdigt werden können. Wenn man diese
beiden Werke gegenüberstellt ^-- von Reichenau diejenigen Bände, welche die
erste Gymnasialzeit seiner Helden schildert, um etwa dieselbe Alters- und Bil¬
dungssphäre abzugrenzen, in welcher der "böse Bube" des Aldrich sich vor
uns bewegt --so erhält man ein höchst interessantes Doppelbild deutschen und
amerikanischen Jugendlebens, das durch die vorwiegend realistische und humo¬
ristische Begabung und Darstellung der beiden Autoren nur noch an Inter¬
esse gewinnt. Die deutschen Jungen, die Rudolf Reichenau uns vorführt,
verdienen das Epitheton "böser Buben" ganz in demselben Sinne und Maße
wie der Held des vorliegenden Bandes, d. h. sie sind jugendsröhlich und oft¬
mals auch übermüthig und leichtsinnig. Sie sind so wenig Engel wie der
böse Bube Bailey Aldrich's und sehr "verschieden von jenen makellosen jungen
Herrn, die gewöhnlich in derartigen Erzählungen figuriren." Sie sind ebenso
wie dieser "liebenswürdige, lebhafte Bürschlein, gesegnet mit einer trefflichen
Verdauungskraft und entfernt von aller Heuchelei." Die Tractätchen der
Missionäre kommen auch ihnen -- wenn sie davon überhaupt etwas zu sehen
bekommen -- nicht halb so hübsch vor, als der Robinson Crusoe, und auch
sie schicken ihr Bischen Taschengeld nicht den Eingeborenen der Fidschi-In¬
seln, sondern verthun es mit königlicher Liberalität in Pfeffermünz-Plätzchen
und Zuckerkand!

Insoweit also gehen die beiden Dichter Hand in Hand. Sie schildern
Knaben mit Fleisch und Bein, wie man sie überall und zu allen Zeiten trifft,
und diese Jungen "gleichen den unmöglichen Knaben in den Geschichtenbüchcrn



Leipzig F. W. Grnnow.

(der Prudence Palfrey u. s. w. enthielt) einführten, haben wir uns eingehend
über den Charakter seiner Schreibweise, namentlich im Vergleich zu seinem
Landsmann Bret Harte ausgesprochen. Es ist wohl gestattet, hier auf jene
Ausführungen zurückzuverweisen; um so mehr, als sie durch den neuerschienenen
Band nur bestätigt werden. Aldrich zeigt sich auch hier als ein psychologischer
Naturalist von hervorragendster Bedeutung. Sprache, Handlung, Charaktere
können kaum natürlicher gedacht und behandelt werden, als in diesem Bande.
Und doch gehört ein gereiftes, reicherfahrenes Mannesleben dazu; ein Mannes¬
leben, das in Amerika seine Prüfungen und Erfahrungen bestand, um so
wahr, so sicher und heiter zu erzählen, wie Aldrich hier erzählt.

Die „Geschichte eines bösen Buben" ist nichts weniger als etwa eine
Kindergeschichte für Kinder — obwohl sie, wie der Verfasser zu bemerken
Gelegenheit hatte von den Landsleuten des Dichters in sehr jungen
Jahren gelesen wird. Sie wird ebenso wie die Schriften unsres Rudolf
Reichenau*) „Aus unsern vier Wänden" in ihrer ganzen Tiefe und Erkennt¬
niß nur von einem reiferen Alter gewürdigt werden können. Wenn man diese
beiden Werke gegenüberstellt ^— von Reichenau diejenigen Bände, welche die
erste Gymnasialzeit seiner Helden schildert, um etwa dieselbe Alters- und Bil¬
dungssphäre abzugrenzen, in welcher der „böse Bube" des Aldrich sich vor
uns bewegt —so erhält man ein höchst interessantes Doppelbild deutschen und
amerikanischen Jugendlebens, das durch die vorwiegend realistische und humo¬
ristische Begabung und Darstellung der beiden Autoren nur noch an Inter¬
esse gewinnt. Die deutschen Jungen, die Rudolf Reichenau uns vorführt,
verdienen das Epitheton „böser Buben" ganz in demselben Sinne und Maße
wie der Held des vorliegenden Bandes, d. h. sie sind jugendsröhlich und oft¬
mals auch übermüthig und leichtsinnig. Sie sind so wenig Engel wie der
böse Bube Bailey Aldrich's und sehr „verschieden von jenen makellosen jungen
Herrn, die gewöhnlich in derartigen Erzählungen figuriren." Sie sind ebenso
wie dieser „liebenswürdige, lebhafte Bürschlein, gesegnet mit einer trefflichen
Verdauungskraft und entfernt von aller Heuchelei." Die Tractätchen der
Missionäre kommen auch ihnen — wenn sie davon überhaupt etwas zu sehen
bekommen — nicht halb so hübsch vor, als der Robinson Crusoe, und auch
sie schicken ihr Bischen Taschengeld nicht den Eingeborenen der Fidschi-In¬
seln, sondern verthun es mit königlicher Liberalität in Pfeffermünz-Plätzchen
und Zuckerkand!

Insoweit also gehen die beiden Dichter Hand in Hand. Sie schildern
Knaben mit Fleisch und Bein, wie man sie überall und zu allen Zeiten trifft,
und diese Jungen „gleichen den unmöglichen Knaben in den Geschichtenbüchcrn



Leipzig F. W. Grnnow.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0429" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/133189"/>
          <p xml:id="ID_1508" prev="#ID_1507"> (der Prudence Palfrey u. s. w. enthielt) einführten, haben wir uns eingehend<lb/>
über den Charakter seiner Schreibweise, namentlich im Vergleich zu seinem<lb/>
Landsmann Bret Harte ausgesprochen. Es ist wohl gestattet, hier auf jene<lb/>
Ausführungen zurückzuverweisen; um so mehr, als sie durch den neuerschienenen<lb/>
Band nur bestätigt werden. Aldrich zeigt sich auch hier als ein psychologischer<lb/>
Naturalist von hervorragendster Bedeutung. Sprache, Handlung, Charaktere<lb/>
können kaum natürlicher gedacht und behandelt werden, als in diesem Bande.<lb/>
Und doch gehört ein gereiftes, reicherfahrenes Mannesleben dazu; ein Mannes¬<lb/>
leben, das in Amerika seine Prüfungen und Erfahrungen bestand, um so<lb/>
wahr, so sicher und heiter zu erzählen, wie Aldrich hier erzählt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1509"> Die &#x201E;Geschichte eines bösen Buben" ist nichts weniger als etwa eine<lb/>
Kindergeschichte für Kinder &#x2014; obwohl sie, wie der Verfasser zu bemerken<lb/>
Gelegenheit hatte von den Landsleuten des Dichters in sehr jungen<lb/>
Jahren gelesen wird. Sie wird ebenso wie die Schriften unsres Rudolf<lb/>
Reichenau*) &#x201E;Aus unsern vier Wänden" in ihrer ganzen Tiefe und Erkennt¬<lb/>
niß nur von einem reiferen Alter gewürdigt werden können. Wenn man diese<lb/>
beiden Werke gegenüberstellt ^&#x2014; von Reichenau diejenigen Bände, welche die<lb/>
erste Gymnasialzeit seiner Helden schildert, um etwa dieselbe Alters- und Bil¬<lb/>
dungssphäre abzugrenzen, in welcher der &#x201E;böse Bube" des Aldrich sich vor<lb/>
uns bewegt &#x2014;so erhält man ein höchst interessantes Doppelbild deutschen und<lb/>
amerikanischen Jugendlebens, das durch die vorwiegend realistische und humo¬<lb/>
ristische Begabung und Darstellung der beiden Autoren nur noch an Inter¬<lb/>
esse gewinnt. Die deutschen Jungen, die Rudolf Reichenau uns vorführt,<lb/>
verdienen das Epitheton &#x201E;böser Buben" ganz in demselben Sinne und Maße<lb/>
wie der Held des vorliegenden Bandes, d. h. sie sind jugendsröhlich und oft¬<lb/>
mals auch übermüthig und leichtsinnig. Sie sind so wenig Engel wie der<lb/>
böse Bube Bailey Aldrich's und sehr &#x201E;verschieden von jenen makellosen jungen<lb/>
Herrn, die gewöhnlich in derartigen Erzählungen figuriren." Sie sind ebenso<lb/>
wie dieser &#x201E;liebenswürdige, lebhafte Bürschlein, gesegnet mit einer trefflichen<lb/>
Verdauungskraft und entfernt von aller Heuchelei." Die Tractätchen der<lb/>
Missionäre kommen auch ihnen &#x2014; wenn sie davon überhaupt etwas zu sehen<lb/>
bekommen &#x2014; nicht halb so hübsch vor, als der Robinson Crusoe, und auch<lb/>
sie schicken ihr Bischen Taschengeld nicht den Eingeborenen der Fidschi-In¬<lb/>
seln, sondern verthun es mit königlicher Liberalität in Pfeffermünz-Plätzchen<lb/>
und Zuckerkand!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1510" next="#ID_1511"> Insoweit also gehen die beiden Dichter Hand in Hand. Sie schildern<lb/>
Knaben mit Fleisch und Bein, wie man sie überall und zu allen Zeiten trifft,<lb/>
und diese Jungen &#x201E;gleichen den unmöglichen Knaben in den Geschichtenbüchcrn</p><lb/>
          <note xml:id="FID_78" place="foot"> Leipzig F. W. Grnnow.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0429] (der Prudence Palfrey u. s. w. enthielt) einführten, haben wir uns eingehend über den Charakter seiner Schreibweise, namentlich im Vergleich zu seinem Landsmann Bret Harte ausgesprochen. Es ist wohl gestattet, hier auf jene Ausführungen zurückzuverweisen; um so mehr, als sie durch den neuerschienenen Band nur bestätigt werden. Aldrich zeigt sich auch hier als ein psychologischer Naturalist von hervorragendster Bedeutung. Sprache, Handlung, Charaktere können kaum natürlicher gedacht und behandelt werden, als in diesem Bande. Und doch gehört ein gereiftes, reicherfahrenes Mannesleben dazu; ein Mannes¬ leben, das in Amerika seine Prüfungen und Erfahrungen bestand, um so wahr, so sicher und heiter zu erzählen, wie Aldrich hier erzählt. Die „Geschichte eines bösen Buben" ist nichts weniger als etwa eine Kindergeschichte für Kinder — obwohl sie, wie der Verfasser zu bemerken Gelegenheit hatte von den Landsleuten des Dichters in sehr jungen Jahren gelesen wird. Sie wird ebenso wie die Schriften unsres Rudolf Reichenau*) „Aus unsern vier Wänden" in ihrer ganzen Tiefe und Erkennt¬ niß nur von einem reiferen Alter gewürdigt werden können. Wenn man diese beiden Werke gegenüberstellt ^— von Reichenau diejenigen Bände, welche die erste Gymnasialzeit seiner Helden schildert, um etwa dieselbe Alters- und Bil¬ dungssphäre abzugrenzen, in welcher der „böse Bube" des Aldrich sich vor uns bewegt —so erhält man ein höchst interessantes Doppelbild deutschen und amerikanischen Jugendlebens, das durch die vorwiegend realistische und humo¬ ristische Begabung und Darstellung der beiden Autoren nur noch an Inter¬ esse gewinnt. Die deutschen Jungen, die Rudolf Reichenau uns vorführt, verdienen das Epitheton „böser Buben" ganz in demselben Sinne und Maße wie der Held des vorliegenden Bandes, d. h. sie sind jugendsröhlich und oft¬ mals auch übermüthig und leichtsinnig. Sie sind so wenig Engel wie der böse Bube Bailey Aldrich's und sehr „verschieden von jenen makellosen jungen Herrn, die gewöhnlich in derartigen Erzählungen figuriren." Sie sind ebenso wie dieser „liebenswürdige, lebhafte Bürschlein, gesegnet mit einer trefflichen Verdauungskraft und entfernt von aller Heuchelei." Die Tractätchen der Missionäre kommen auch ihnen — wenn sie davon überhaupt etwas zu sehen bekommen — nicht halb so hübsch vor, als der Robinson Crusoe, und auch sie schicken ihr Bischen Taschengeld nicht den Eingeborenen der Fidschi-In¬ seln, sondern verthun es mit königlicher Liberalität in Pfeffermünz-Plätzchen und Zuckerkand! Insoweit also gehen die beiden Dichter Hand in Hand. Sie schildern Knaben mit Fleisch und Bein, wie man sie überall und zu allen Zeiten trifft, und diese Jungen „gleichen den unmöglichen Knaben in den Geschichtenbüchcrn Leipzig F. W. Grnnow.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/429
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/429>, abgerufen am 28.05.2024.