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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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lasst den sonst üblichen Beisatz von "Schönheit" absichtlich weg, da ja auch
das Häßliche in der Kunst seine Berechtigung hat und durch den Humor oder
durch den Gegensatz ästhetisch wirken kann, ähnlich wie in einer Symphonie
die Dissonanzen oft die Uebergänge zur lieblichen Melodie sind.

Wer also die Begabung und die technische Ausbildung besitzt, seine innere
Empfindungswelt, sei -es durch Worte, durch Formen und Farben, durch
Musik und Gesang und durch Pantomimen (Tanz) allgemein verständlich zu
machen, der ist ein Künstler, der mehr oder minder seine Mitmenschen erhebt
und beglückt, je nachdem nämlich seine innere Welt sür die Ideale erglüht
und seine Kraft zur Darstellung ausreichend ist. Die Künstler in Worten
sind unsere Dichter, die in Formen und Farben sind Maler, Decorateure.
Architekten und Bildhauer !c. :c. Ja wir nennen Künstler sogar diejenigen,
welche die Empfindungen eines großen Meisters in sich aufzunehmen und mit
großer Begabung zu wiederholen wissen, z. B. Schauspieler, Nachbildner ze.
Je mehr nun ein Künstler zum Verständniß des größten Kunstwerkes gelangt,
nämlich der Welt, je mehr er die Gesetze der Natur, das Werden, Wachsen,
Blühen und Welken, die Leidenschaften der Menschen, ihre Culturepochen ze.
erkennt und somit zur Allgemeinheit der Empfindungen der Menschheit sich
emporarbeitet, um so größer steht er vor unseren Augen. Ihm offenbart
sich dann, was dem grübelnden Verstände der Forscher vielleicht erst nach
Jahrtausenden nachzurechnen, zu messen oder zu wiegen gelingt, nämlich
das rythmische Walten der schaffenden Kräfte. Dieses strömt dann die Be¬
geisterung des Genius in Worten oder Formen, in Farben oder Tönen aus
und bezaubert die Menschheit. Das ist das Wesen der Kunst und daher
nennen wir sie die höchste Offenbarung der göttlichen Kraft im Menschen.

Beachten wir ferner, daß unsere Phantasie uns in den Zustand des
Geschauten mehr oder weniger versetzt, (je nach unserer menschlichen Verwandt¬
schaft zu dem Dargestellten) so liegt hierin der Schlüssel, ob etwas schön,
d- h. uns angenehm scheinend, oder "häßlich", d. h. uns hassenswerth er¬
scheinend, ist und warum man sagt, daß sich über Geschmack und Unge-
schmack nicht streiten lasse. Eine Darstellung eines geschundenen Märtyrers
oder die Gräuel einer Schlacht und der Verwesung können uns in vielen
Fällen zum Ekel werden, ebenfalls die Darstellung einer Unmoralität. Solche
Häßlichkeiten können nur dann ästhetisch wirken, wenn ein gewaltiger Gedanke
^e rechtfertigt und uns gleichsam über unsere irdischen Schmerzen emporträgt.
So ist das Bild des Gekreuzigten ästhetisch verwerflich, wenn der Christus¬
gedanke ihm fehlt, denn das gemarterte Menschenbild am Marterholze k-<in
uns an und für sich nie befriedigen; es wird aber großartig, wennx-^r de¬
cken, daß es das Bild des Menschensohnes ist, der für sah^uns vom


lasst den sonst üblichen Beisatz von „Schönheit" absichtlich weg, da ja auch
das Häßliche in der Kunst seine Berechtigung hat und durch den Humor oder
durch den Gegensatz ästhetisch wirken kann, ähnlich wie in einer Symphonie
die Dissonanzen oft die Uebergänge zur lieblichen Melodie sind.

Wer also die Begabung und die technische Ausbildung besitzt, seine innere
Empfindungswelt, sei -es durch Worte, durch Formen und Farben, durch
Musik und Gesang und durch Pantomimen (Tanz) allgemein verständlich zu
machen, der ist ein Künstler, der mehr oder minder seine Mitmenschen erhebt
und beglückt, je nachdem nämlich seine innere Welt sür die Ideale erglüht
und seine Kraft zur Darstellung ausreichend ist. Die Künstler in Worten
sind unsere Dichter, die in Formen und Farben sind Maler, Decorateure.
Architekten und Bildhauer !c. :c. Ja wir nennen Künstler sogar diejenigen,
welche die Empfindungen eines großen Meisters in sich aufzunehmen und mit
großer Begabung zu wiederholen wissen, z. B. Schauspieler, Nachbildner ze.
Je mehr nun ein Künstler zum Verständniß des größten Kunstwerkes gelangt,
nämlich der Welt, je mehr er die Gesetze der Natur, das Werden, Wachsen,
Blühen und Welken, die Leidenschaften der Menschen, ihre Culturepochen ze.
erkennt und somit zur Allgemeinheit der Empfindungen der Menschheit sich
emporarbeitet, um so größer steht er vor unseren Augen. Ihm offenbart
sich dann, was dem grübelnden Verstände der Forscher vielleicht erst nach
Jahrtausenden nachzurechnen, zu messen oder zu wiegen gelingt, nämlich
das rythmische Walten der schaffenden Kräfte. Dieses strömt dann die Be¬
geisterung des Genius in Worten oder Formen, in Farben oder Tönen aus
und bezaubert die Menschheit. Das ist das Wesen der Kunst und daher
nennen wir sie die höchste Offenbarung der göttlichen Kraft im Menschen.

Beachten wir ferner, daß unsere Phantasie uns in den Zustand des
Geschauten mehr oder weniger versetzt, (je nach unserer menschlichen Verwandt¬
schaft zu dem Dargestellten) so liegt hierin der Schlüssel, ob etwas schön,
d- h. uns angenehm scheinend, oder „häßlich", d. h. uns hassenswerth er¬
scheinend, ist und warum man sagt, daß sich über Geschmack und Unge-
schmack nicht streiten lasse. Eine Darstellung eines geschundenen Märtyrers
oder die Gräuel einer Schlacht und der Verwesung können uns in vielen
Fällen zum Ekel werden, ebenfalls die Darstellung einer Unmoralität. Solche
Häßlichkeiten können nur dann ästhetisch wirken, wenn ein gewaltiger Gedanke
^e rechtfertigt und uns gleichsam über unsere irdischen Schmerzen emporträgt.
So ist das Bild des Gekreuzigten ästhetisch verwerflich, wenn der Christus¬
gedanke ihm fehlt, denn das gemarterte Menschenbild am Marterholze k-<in
uns an und für sich nie befriedigen; es wird aber großartig, wennx-^r de¬
cken, daß es das Bild des Menschensohnes ist, der für sah^uns vom


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/421>, abgerufen am 28.05.2024.