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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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hingewiesen hat; aber Napoleon befand sich in ungleich günstigerer Lage und
hat -- quantitativ wenigstens -- doch viel Geringeres geleistet. Er fand
ungefähr 160,000 Mann unter den Fahnen, 30,000 Mann beurlaubt, und
daneben disponirte er in der Nation über mehr als eine Viertel - Million
kriegserfahrener Soldaten, aus denen er seine Heerschaaren ergänzen und
verstärken konnte. Dazu kamen die Conseriptton von 1813, die Matrosen
und hinter alledem die Garde-nationale. -- Man kann nicht sagen, daß der
Kaiser mit großer Energie von diesen Hilfsquellen Gebrauch gemacht; nur
langsam und zögernd hat er eine nach der andern eröffnet. Ihn lähmten
anfangs seine friedlichen Versprechungen; dann graute ihm vor der Ent¬
fesselung der Volkskraft; von einer Revue der 80 Tirailleurbataillons der
pariser Nationalgarde kehrte er mit dem Ausrufe heim: "Wenn ich gewußt,
daß ich so tief herabsteigen müßte; ich wäre auf Elba geblieben!" In dritte¬
halb Monaten gelang es ihm nur, den Stand seiner eigentlichen Feldarmee
um etwa 50,000 Mann zu erhöhen. Er formirte nach und nach 1 Corps
Kaisergarde, 7 Linien-Armee-Corps, 4 Cavallerie-, 4 Observations-Corps
(Jura, Var, Ost- und West-Pyrenäen) und eine Armee gegen die empörte
Vendee. -- Das V. Corps unter Rapp stand im Elsaß, das VII. unter
Suchet in Savoyen; die Hauptmasse bildete die Große Armee, welche am
10. Juni, von Napoleon geführt, in Belgien einmarschirte. So wenig be¬
gründet aber die Bewunderung ist, mit der von den meisten Schriftstellern
"die ungeheuere Energie" gepriesen worden, welche Napoleon 1815 bei Auf¬
bietung der Heereskräfte Frankreichs entfaltet habe, so gerechtfertigt ist der
soldatische Stolz, mit dem das Auge der Franzosen auf der Operationsarmee
von Belgien ruht. Wohl zählte sie nur 128,000 Mann und 344 Feuer-
schlünde; aber fast durchweg bestand sie aus altgedienter Soldaten. Vittoria
und Leipzig, Kulm und Paris hatten diese vergessen; in ihrem Gedächtnisse
lebten nur die Ruhmestage, und ihre Herzen erfüllte der fanatische Wunsch,
das Unglück zu rächen, das über "das Frankreich des großen Napoleon" ge¬
kommen war. -- Und faßt man die Feldherrn ins Auge: Wer wollte einen
besseren Generalstabschef nennen als Marschall Soult? Gab es tüchtigere
Infanterie-Corps-Führer als Ge'rard, Lobau oder Rente? Und was durfte
man nicht von einer Kavallerie erwarten, an deren Spitze Kellermann, Pajol
und Excelmans standen?! -- Daß dieser glänzenden Ausstattung die innere
Moral nicht völlig entsprach, hat freilich der Verlauf des Feldzuges gelehrt.

Napoleon's zauberndes Benehmen, wie es bei der Armee-Bildung hervor¬
tritt, findet sein Gegenstück in dem Verhalten der Verbündeten; aber wahrlich,
weder durch Blücher's noch durch Wellington's Schuld. -- Die politisch --
strategische Lage, welche zu einer solchen Haltung führte, ist erst in neuester
Zeit auf Grund archivalischer Dokumente vom General von Ottens klar


hingewiesen hat; aber Napoleon befand sich in ungleich günstigerer Lage und
hat — quantitativ wenigstens — doch viel Geringeres geleistet. Er fand
ungefähr 160,000 Mann unter den Fahnen, 30,000 Mann beurlaubt, und
daneben disponirte er in der Nation über mehr als eine Viertel - Million
kriegserfahrener Soldaten, aus denen er seine Heerschaaren ergänzen und
verstärken konnte. Dazu kamen die Conseriptton von 1813, die Matrosen
und hinter alledem die Garde-nationale. — Man kann nicht sagen, daß der
Kaiser mit großer Energie von diesen Hilfsquellen Gebrauch gemacht; nur
langsam und zögernd hat er eine nach der andern eröffnet. Ihn lähmten
anfangs seine friedlichen Versprechungen; dann graute ihm vor der Ent¬
fesselung der Volkskraft; von einer Revue der 80 Tirailleurbataillons der
pariser Nationalgarde kehrte er mit dem Ausrufe heim: „Wenn ich gewußt,
daß ich so tief herabsteigen müßte; ich wäre auf Elba geblieben!" In dritte¬
halb Monaten gelang es ihm nur, den Stand seiner eigentlichen Feldarmee
um etwa 50,000 Mann zu erhöhen. Er formirte nach und nach 1 Corps
Kaisergarde, 7 Linien-Armee-Corps, 4 Cavallerie-, 4 Observations-Corps
(Jura, Var, Ost- und West-Pyrenäen) und eine Armee gegen die empörte
Vendee. — Das V. Corps unter Rapp stand im Elsaß, das VII. unter
Suchet in Savoyen; die Hauptmasse bildete die Große Armee, welche am
10. Juni, von Napoleon geführt, in Belgien einmarschirte. So wenig be¬
gründet aber die Bewunderung ist, mit der von den meisten Schriftstellern
„die ungeheuere Energie" gepriesen worden, welche Napoleon 1815 bei Auf¬
bietung der Heereskräfte Frankreichs entfaltet habe, so gerechtfertigt ist der
soldatische Stolz, mit dem das Auge der Franzosen auf der Operationsarmee
von Belgien ruht. Wohl zählte sie nur 128,000 Mann und 344 Feuer-
schlünde; aber fast durchweg bestand sie aus altgedienter Soldaten. Vittoria
und Leipzig, Kulm und Paris hatten diese vergessen; in ihrem Gedächtnisse
lebten nur die Ruhmestage, und ihre Herzen erfüllte der fanatische Wunsch,
das Unglück zu rächen, das über „das Frankreich des großen Napoleon" ge¬
kommen war. — Und faßt man die Feldherrn ins Auge: Wer wollte einen
besseren Generalstabschef nennen als Marschall Soult? Gab es tüchtigere
Infanterie-Corps-Führer als Ge'rard, Lobau oder Rente? Und was durfte
man nicht von einer Kavallerie erwarten, an deren Spitze Kellermann, Pajol
und Excelmans standen?! — Daß dieser glänzenden Ausstattung die innere
Moral nicht völlig entsprach, hat freilich der Verlauf des Feldzuges gelehrt.

Napoleon's zauberndes Benehmen, wie es bei der Armee-Bildung hervor¬
tritt, findet sein Gegenstück in dem Verhalten der Verbündeten; aber wahrlich,
weder durch Blücher's noch durch Wellington's Schuld. — Die politisch --
strategische Lage, welche zu einer solchen Haltung führte, ist erst in neuester
Zeit auf Grund archivalischer Dokumente vom General von Ottens klar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/446>, abgerufen am 19.05.2024.