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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band.

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Schelling im Verhältnisse zur Hegenwart*).
Von Rudolf Seydel.

Warum wollen wir Schelling feiern? Sind wir getrieben dazu aus
eigner innerer Bewegung, die uns den äußeren Anlaß der Sücularfeier seiner
Geburt mit freudigem Eifer erfassen heißt? Sind wir uns dabei eines sym¬
pathischen Entgegenkommens gewiß, wenigstens von den Gebildetsten unsrer
Nation? Oder folgen wir zunächst nur dem äußeren Anlasse und fordern
vom Festredner, daß er ihn, wenn er kann, uns in einen inneren umwandte?
Das Letztere zu bejahen werden heute Viele geneigt sein, und daß sie Recht
haben, möchte beinahe schon daraus folgen, daß wir diese zweifelnden Fragen
an den Eingang unsrer Feier zu stellen überhaupt uns gestimmt finden.
Wer hätte so zu fragen gewagt beim Eintritt in die Schillerfeier, aber auch
in die Goethe's, Fichte's, Schleiermacher's? Jetzt kommen uns sogar einige
vom allgemeineren Culturstrom unsrer Tage abseitgehende Geistes- und Lebens¬
richtungen ins Gedächtniß, von deren Vertretern wir fürchten möchten, daß
ihnen dieser Tag willkommener sei als allen Andern unter unsern Zeitgenossen.
So verwandelt sich der erste Zweifel in Bedenken.

Aus dem Stamme des Schelling'schen Denkens sehen wir, auf dem langen
Wege seines, nicht immer gerade aufstrebenden, sondern einigermaßen spiralen
Wachsthums, gar manchfach gestaltete Zweige nach den verschiedensten Rich¬
tungen hervorgehen.

Die Uebermacht des Geistes über die Natur, welche zugleich festgehalten
wurde mit der substantiellen Wesensgemeinschaft beider, lockte zu Versuchen,
in das dunkle Reich der Magie, des animalischen Magnetismus, des Geister¬
verkehrs, das Licht der Philosophie zu tragen, aber nicht, um die Gespenster
zu verscheuchen, sondern um ihr Erscheinen begreiflich zu finden und in den
Kosmos der Enthüllungen des innersten Wesens der Dinge einzureihen.
Sparsam und vorsichtig nur gestattete sich Schelling selbst solchen Gebrauch
seiner Grundlehren. Aber die Eschenmayer und Justin us .Kerner
zeigen uns den Zusammenhang einer gläubigen Borliebe für diese räthselvollen



") Festrede, zur Schcllingfeicr im akademisch-philosophischen Verein zu Leipzig am 27. Jan.
1875 gehalten.
Grenzboten N. 1875. 1
Schelling im Verhältnisse zur Hegenwart*).
Von Rudolf Seydel.

Warum wollen wir Schelling feiern? Sind wir getrieben dazu aus
eigner innerer Bewegung, die uns den äußeren Anlaß der Sücularfeier seiner
Geburt mit freudigem Eifer erfassen heißt? Sind wir uns dabei eines sym¬
pathischen Entgegenkommens gewiß, wenigstens von den Gebildetsten unsrer
Nation? Oder folgen wir zunächst nur dem äußeren Anlasse und fordern
vom Festredner, daß er ihn, wenn er kann, uns in einen inneren umwandte?
Das Letztere zu bejahen werden heute Viele geneigt sein, und daß sie Recht
haben, möchte beinahe schon daraus folgen, daß wir diese zweifelnden Fragen
an den Eingang unsrer Feier zu stellen überhaupt uns gestimmt finden.
Wer hätte so zu fragen gewagt beim Eintritt in die Schillerfeier, aber auch
in die Goethe's, Fichte's, Schleiermacher's? Jetzt kommen uns sogar einige
vom allgemeineren Culturstrom unsrer Tage abseitgehende Geistes- und Lebens¬
richtungen ins Gedächtniß, von deren Vertretern wir fürchten möchten, daß
ihnen dieser Tag willkommener sei als allen Andern unter unsern Zeitgenossen.
So verwandelt sich der erste Zweifel in Bedenken.

Aus dem Stamme des Schelling'schen Denkens sehen wir, auf dem langen
Wege seines, nicht immer gerade aufstrebenden, sondern einigermaßen spiralen
Wachsthums, gar manchfach gestaltete Zweige nach den verschiedensten Rich¬
tungen hervorgehen.

Die Uebermacht des Geistes über die Natur, welche zugleich festgehalten
wurde mit der substantiellen Wesensgemeinschaft beider, lockte zu Versuchen,
in das dunkle Reich der Magie, des animalischen Magnetismus, des Geister¬
verkehrs, das Licht der Philosophie zu tragen, aber nicht, um die Gespenster
zu verscheuchen, sondern um ihr Erscheinen begreiflich zu finden und in den
Kosmos der Enthüllungen des innersten Wesens der Dinge einzureihen.
Sparsam und vorsichtig nur gestattete sich Schelling selbst solchen Gebrauch
seiner Grundlehren. Aber die Eschenmayer und Justin us .Kerner
zeigen uns den Zusammenhang einer gläubigen Borliebe für diese räthselvollen



") Festrede, zur Schcllingfeicr im akademisch-philosophischen Verein zu Leipzig am 27. Jan.
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[0005] Schelling im Verhältnisse zur Hegenwart*). Von Rudolf Seydel. Warum wollen wir Schelling feiern? Sind wir getrieben dazu aus eigner innerer Bewegung, die uns den äußeren Anlaß der Sücularfeier seiner Geburt mit freudigem Eifer erfassen heißt? Sind wir uns dabei eines sym¬ pathischen Entgegenkommens gewiß, wenigstens von den Gebildetsten unsrer Nation? Oder folgen wir zunächst nur dem äußeren Anlasse und fordern vom Festredner, daß er ihn, wenn er kann, uns in einen inneren umwandte? Das Letztere zu bejahen werden heute Viele geneigt sein, und daß sie Recht haben, möchte beinahe schon daraus folgen, daß wir diese zweifelnden Fragen an den Eingang unsrer Feier zu stellen überhaupt uns gestimmt finden. Wer hätte so zu fragen gewagt beim Eintritt in die Schillerfeier, aber auch in die Goethe's, Fichte's, Schleiermacher's? Jetzt kommen uns sogar einige vom allgemeineren Culturstrom unsrer Tage abseitgehende Geistes- und Lebens¬ richtungen ins Gedächtniß, von deren Vertretern wir fürchten möchten, daß ihnen dieser Tag willkommener sei als allen Andern unter unsern Zeitgenossen. So verwandelt sich der erste Zweifel in Bedenken. Aus dem Stamme des Schelling'schen Denkens sehen wir, auf dem langen Wege seines, nicht immer gerade aufstrebenden, sondern einigermaßen spiralen Wachsthums, gar manchfach gestaltete Zweige nach den verschiedensten Rich¬ tungen hervorgehen. Die Uebermacht des Geistes über die Natur, welche zugleich festgehalten wurde mit der substantiellen Wesensgemeinschaft beider, lockte zu Versuchen, in das dunkle Reich der Magie, des animalischen Magnetismus, des Geister¬ verkehrs, das Licht der Philosophie zu tragen, aber nicht, um die Gespenster zu verscheuchen, sondern um ihr Erscheinen begreiflich zu finden und in den Kosmos der Enthüllungen des innersten Wesens der Dinge einzureihen. Sparsam und vorsichtig nur gestattete sich Schelling selbst solchen Gebrauch seiner Grundlehren. Aber die Eschenmayer und Justin us .Kerner zeigen uns den Zusammenhang einer gläubigen Borliebe für diese räthselvollen ") Festrede, zur Schcllingfeicr im akademisch-philosophischen Verein zu Leipzig am 27. Jan. 1875 gehalten. Grenzboten N. 1875. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134976/5>, abgerufen am 19.05.2024.