Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorlesungen über physische Geographie, die Kant zwei Jahre später aus¬
arbeitete, und wo er u. A. sagt: "Die Geschichte ist eine Erzählung,
die Geographie eine Beschreibung. Daher können wir zwar auch eine
Naturbeschreibung, aber keine Naturgeschichte haben. Die letztere Be¬
nennung, wie sie von Vielen gebraucht wird, ist ganz unrichtig. Weil
wir aber gewöhnlich, wenn wir nur den Namen haben, auch die Sache zu
haben glauben, so denkt niemand daran, wirklich eine solche Naturgeschichte
zu liefern. Die Geschichte der Natur enthält die Mannigfaltigkeit der Geo¬
graphie, wie es nämlich in verschiedenen Zeiten damit gewesen ist, nicht aber
wie es jetzt zu gleicher Zeit ist; denn dies wäre ja eben Naturbeschreibung."
"Wahre Philosophie ist es, die Verschiedenheit einer Sache durch alle Zeiten
zu verfolgen." "Ginge man den Zustand der Natur in der Art durch, daß
man bemerkte, welche Veränderungen sie durch alle Zeiten erlitten hätte, so
würde dieses Verfahren eine eigentliche Naturgeschichte geben." "Es ist aus
der Verschiedenheit der Kost, der Luft und der Erziehung zu erklären, warum
einige Hühner ganz weiß werden, und wenn man unter den vielen Küchlein,
die von denselben Eltern geboren werden, nur die aussucht, die weiß sind,
und sie zusammen thut, so bekommt man endlich eine weiße Race. die nicht
leicht anders ausschlägt." "Wenn man nach den Ursachen der mancherlei
einem Volke angearteten Bildungen und Naturelle fragt, so darf man nur
auf die Ausartungen der Thiere Acht haben, sobald sie in ein anderes Klima
gebracht werden. Ein Eichhörnchen, das, hier braun war. wird in Sibirien
grau. Ein europäischer Hund wird in Guinea ungestaltet und kahl, sammt
seiner Nachkommenschaft. Die nordischen Völker, die nach Spanien überge¬
gangen sind, haben nicht allein eine Nachkommenschaft von Körpern, die lange
nicht so groß und stark, als sie waren, hinterlassen, sondern sind auch in ein
Temperament, das dem eines Dänen oder Norwegers sehr unähnlich ist, aus¬
geartet." Auch in der Kant'schen Schrift "der einzig mögliche Beweisgrund
zu einer Demonstration des Daseins Gottes" und in den kleinen Schriften
der Jahre 1764--1771 findet der Verfasser unseres Buches Spuren der Ent¬
wicklungslehre. Hier begegnen wir Aeußerungen, aus denen sich folgende Sätze
ergeben: 1. Die Philosophie soll sich nicht auf immaterielle Prinzipien be¬
rufen, sondern sich an die mechanischen Gründe halten, welche auf den Be-
wcgungsgesetzen der bloßen Materie ruhen, und welche allein der Begreiflichkeit
fähig sind. 2. Zwischen lebendiger Natur und lebloser, zwischen organischer
und unorganischer Welt läßt sich kaum eine sichere Grenze ziehen. 3. Ebenso
giebt es keine feste Grenze zwischen Thier- und Pflanzenreich. Wie sehr Kant
sich hier einem hylozoistischen Standpunkte zuneigt, liegt auf der Hand. Wenn
sich ihm aber die dualistische Grenzlinie zwischen dem Unorganischen und dem
Organischen, zwischen Thier und Pflanze hier verwischt, wenn er die Bern-


Vorlesungen über physische Geographie, die Kant zwei Jahre später aus¬
arbeitete, und wo er u. A. sagt: „Die Geschichte ist eine Erzählung,
die Geographie eine Beschreibung. Daher können wir zwar auch eine
Naturbeschreibung, aber keine Naturgeschichte haben. Die letztere Be¬
nennung, wie sie von Vielen gebraucht wird, ist ganz unrichtig. Weil
wir aber gewöhnlich, wenn wir nur den Namen haben, auch die Sache zu
haben glauben, so denkt niemand daran, wirklich eine solche Naturgeschichte
zu liefern. Die Geschichte der Natur enthält die Mannigfaltigkeit der Geo¬
graphie, wie es nämlich in verschiedenen Zeiten damit gewesen ist, nicht aber
wie es jetzt zu gleicher Zeit ist; denn dies wäre ja eben Naturbeschreibung."
„Wahre Philosophie ist es, die Verschiedenheit einer Sache durch alle Zeiten
zu verfolgen." „Ginge man den Zustand der Natur in der Art durch, daß
man bemerkte, welche Veränderungen sie durch alle Zeiten erlitten hätte, so
würde dieses Verfahren eine eigentliche Naturgeschichte geben." „Es ist aus
der Verschiedenheit der Kost, der Luft und der Erziehung zu erklären, warum
einige Hühner ganz weiß werden, und wenn man unter den vielen Küchlein,
die von denselben Eltern geboren werden, nur die aussucht, die weiß sind,
und sie zusammen thut, so bekommt man endlich eine weiße Race. die nicht
leicht anders ausschlägt." „Wenn man nach den Ursachen der mancherlei
einem Volke angearteten Bildungen und Naturelle fragt, so darf man nur
auf die Ausartungen der Thiere Acht haben, sobald sie in ein anderes Klima
gebracht werden. Ein Eichhörnchen, das, hier braun war. wird in Sibirien
grau. Ein europäischer Hund wird in Guinea ungestaltet und kahl, sammt
seiner Nachkommenschaft. Die nordischen Völker, die nach Spanien überge¬
gangen sind, haben nicht allein eine Nachkommenschaft von Körpern, die lange
nicht so groß und stark, als sie waren, hinterlassen, sondern sind auch in ein
Temperament, das dem eines Dänen oder Norwegers sehr unähnlich ist, aus¬
geartet." Auch in der Kant'schen Schrift „der einzig mögliche Beweisgrund
zu einer Demonstration des Daseins Gottes" und in den kleinen Schriften
der Jahre 1764—1771 findet der Verfasser unseres Buches Spuren der Ent¬
wicklungslehre. Hier begegnen wir Aeußerungen, aus denen sich folgende Sätze
ergeben: 1. Die Philosophie soll sich nicht auf immaterielle Prinzipien be¬
rufen, sondern sich an die mechanischen Gründe halten, welche auf den Be-
wcgungsgesetzen der bloßen Materie ruhen, und welche allein der Begreiflichkeit
fähig sind. 2. Zwischen lebendiger Natur und lebloser, zwischen organischer
und unorganischer Welt läßt sich kaum eine sichere Grenze ziehen. 3. Ebenso
giebt es keine feste Grenze zwischen Thier- und Pflanzenreich. Wie sehr Kant
sich hier einem hylozoistischen Standpunkte zuneigt, liegt auf der Hand. Wenn
sich ihm aber die dualistische Grenzlinie zwischen dem Unorganischen und dem
Organischen, zwischen Thier und Pflanze hier verwischt, wenn er die Bern-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134626"/>
          <p xml:id="ID_856" prev="#ID_855" next="#ID_857"> Vorlesungen über physische Geographie, die Kant zwei Jahre später aus¬<lb/>
arbeitete, und wo er u. A. sagt:  &#x201E;Die Geschichte ist eine Erzählung,<lb/>
die Geographie eine Beschreibung.  Daher können wir zwar auch eine<lb/>
Naturbeschreibung, aber keine Naturgeschichte  haben.  Die letztere Be¬<lb/>
nennung, wie sie von Vielen gebraucht wird, ist ganz unrichtig. Weil<lb/>
wir aber gewöhnlich, wenn wir nur den Namen haben, auch die Sache zu<lb/>
haben glauben, so denkt niemand daran, wirklich eine solche Naturgeschichte<lb/>
zu liefern.  Die Geschichte der Natur enthält die Mannigfaltigkeit der Geo¬<lb/>
graphie, wie es nämlich in verschiedenen Zeiten damit gewesen ist, nicht aber<lb/>
wie es jetzt zu gleicher Zeit ist; denn dies wäre ja eben Naturbeschreibung."<lb/>
&#x201E;Wahre Philosophie ist es, die Verschiedenheit einer Sache durch alle Zeiten<lb/>
zu verfolgen."  &#x201E;Ginge man den Zustand der Natur in der Art durch, daß<lb/>
man bemerkte, welche Veränderungen sie durch alle Zeiten erlitten hätte, so<lb/>
würde dieses Verfahren eine eigentliche Naturgeschichte geben."  &#x201E;Es ist aus<lb/>
der Verschiedenheit der Kost, der Luft und der Erziehung zu erklären, warum<lb/>
einige Hühner ganz weiß werden, und wenn man unter den vielen Küchlein,<lb/>
die von denselben Eltern geboren werden, nur die aussucht, die weiß sind,<lb/>
und sie zusammen thut, so bekommt man endlich eine weiße Race. die nicht<lb/>
leicht anders ausschlägt."  &#x201E;Wenn man nach den Ursachen der mancherlei<lb/>
einem Volke angearteten Bildungen und Naturelle fragt, so darf man nur<lb/>
auf die Ausartungen der Thiere Acht haben, sobald sie in ein anderes Klima<lb/>
gebracht werden.  Ein Eichhörnchen, das, hier braun war. wird in Sibirien<lb/>
grau.  Ein europäischer Hund wird in Guinea ungestaltet und kahl, sammt<lb/>
seiner Nachkommenschaft. Die nordischen Völker, die nach Spanien überge¬<lb/>
gangen sind, haben nicht allein eine Nachkommenschaft von Körpern, die lange<lb/>
nicht so groß und stark, als sie waren, hinterlassen, sondern sind auch in ein<lb/>
Temperament, das dem eines Dänen oder Norwegers sehr unähnlich ist, aus¬<lb/>
geartet."  Auch in der Kant'schen Schrift &#x201E;der einzig mögliche Beweisgrund<lb/>
zu einer Demonstration des Daseins Gottes" und in den kleinen Schriften<lb/>
der Jahre 1764&#x2014;1771 findet der Verfasser unseres Buches Spuren der Ent¬<lb/>
wicklungslehre. Hier begegnen wir Aeußerungen, aus denen sich folgende Sätze<lb/>
ergeben:  1. Die Philosophie soll sich nicht auf immaterielle Prinzipien be¬<lb/>
rufen, sondern sich an die mechanischen Gründe halten, welche auf den Be-<lb/>
wcgungsgesetzen der bloßen Materie ruhen, und welche allein der Begreiflichkeit<lb/>
fähig sind.  2. Zwischen lebendiger Natur und lebloser, zwischen organischer<lb/>
und unorganischer Welt läßt sich kaum eine sichere Grenze ziehen.  3. Ebenso<lb/>
giebt es keine feste Grenze zwischen Thier- und Pflanzenreich. Wie sehr Kant<lb/>
sich hier einem hylozoistischen Standpunkte zuneigt, liegt auf der Hand. Wenn<lb/>
sich ihm aber die dualistische Grenzlinie zwischen dem Unorganischen und dem<lb/>
Organischen, zwischen Thier und Pflanze hier verwischt, wenn er die Bern-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0280] Vorlesungen über physische Geographie, die Kant zwei Jahre später aus¬ arbeitete, und wo er u. A. sagt: „Die Geschichte ist eine Erzählung, die Geographie eine Beschreibung. Daher können wir zwar auch eine Naturbeschreibung, aber keine Naturgeschichte haben. Die letztere Be¬ nennung, wie sie von Vielen gebraucht wird, ist ganz unrichtig. Weil wir aber gewöhnlich, wenn wir nur den Namen haben, auch die Sache zu haben glauben, so denkt niemand daran, wirklich eine solche Naturgeschichte zu liefern. Die Geschichte der Natur enthält die Mannigfaltigkeit der Geo¬ graphie, wie es nämlich in verschiedenen Zeiten damit gewesen ist, nicht aber wie es jetzt zu gleicher Zeit ist; denn dies wäre ja eben Naturbeschreibung." „Wahre Philosophie ist es, die Verschiedenheit einer Sache durch alle Zeiten zu verfolgen." „Ginge man den Zustand der Natur in der Art durch, daß man bemerkte, welche Veränderungen sie durch alle Zeiten erlitten hätte, so würde dieses Verfahren eine eigentliche Naturgeschichte geben." „Es ist aus der Verschiedenheit der Kost, der Luft und der Erziehung zu erklären, warum einige Hühner ganz weiß werden, und wenn man unter den vielen Küchlein, die von denselben Eltern geboren werden, nur die aussucht, die weiß sind, und sie zusammen thut, so bekommt man endlich eine weiße Race. die nicht leicht anders ausschlägt." „Wenn man nach den Ursachen der mancherlei einem Volke angearteten Bildungen und Naturelle fragt, so darf man nur auf die Ausartungen der Thiere Acht haben, sobald sie in ein anderes Klima gebracht werden. Ein Eichhörnchen, das, hier braun war. wird in Sibirien grau. Ein europäischer Hund wird in Guinea ungestaltet und kahl, sammt seiner Nachkommenschaft. Die nordischen Völker, die nach Spanien überge¬ gangen sind, haben nicht allein eine Nachkommenschaft von Körpern, die lange nicht so groß und stark, als sie waren, hinterlassen, sondern sind auch in ein Temperament, das dem eines Dänen oder Norwegers sehr unähnlich ist, aus¬ geartet." Auch in der Kant'schen Schrift „der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" und in den kleinen Schriften der Jahre 1764—1771 findet der Verfasser unseres Buches Spuren der Ent¬ wicklungslehre. Hier begegnen wir Aeußerungen, aus denen sich folgende Sätze ergeben: 1. Die Philosophie soll sich nicht auf immaterielle Prinzipien be¬ rufen, sondern sich an die mechanischen Gründe halten, welche auf den Be- wcgungsgesetzen der bloßen Materie ruhen, und welche allein der Begreiflichkeit fähig sind. 2. Zwischen lebendiger Natur und lebloser, zwischen organischer und unorganischer Welt läßt sich kaum eine sichere Grenze ziehen. 3. Ebenso giebt es keine feste Grenze zwischen Thier- und Pflanzenreich. Wie sehr Kant sich hier einem hylozoistischen Standpunkte zuneigt, liegt auf der Hand. Wenn sich ihm aber die dualistische Grenzlinie zwischen dem Unorganischen und dem Organischen, zwischen Thier und Pflanze hier verwischt, wenn er die Bern-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/280
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_148596/280>, abgerufen am 16.06.2024.