Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, II. Semester. I. Band.sollte, so wird im "Kunstwerk der Zukunft" auch der dramatischen Poesie sollte, so wird im „Kunstwerk der Zukunft" auch der dramatischen Poesie <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0388" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/134206"/> <p xml:id="ID_1222" prev="#ID_1221"> sollte, so wird im „Kunstwerk der Zukunft" auch der dramatischen Poesie<lb/> eine ganz andere Form angewiesen sein, das heißt, eine durch und durch<lb/> musikalische: in diesem Rückgriff auf längst verschollene, will sagen griechische<lb/> Art und Kunst würde dann, nach der Meinung vieler Aesttzetiker, der Fortschritt<lb/> unserer und späterer Jahrhunderte liegen — ein Fortschritt freilich, der eigent¬<lb/> lich bloß im Wiedergewinnen des längst Verlorenen läge. Insofern aber<lb/> der musikalische Bestandtheil dabei in Betracht kommt, so müßte wenigstens<lb/> aufdiesem Boden ein ungeheurer wirklicher Fortschritt angenommen werden.<lb/> Wie sehr die Musik noch vor hundert Jahren fortschrittsfähig und fort¬<lb/> schrittsbedürftig war, haben ihre Heroen bewiesen, l^ob sie es in eben solchem, ja<lb/> in erhöhtem Grade auch in unserer Zeit sei , oder zur Zeit noch nicht sei —<lb/> darüber tobt der Streit ja schon- lange! — Fortleben, mein' ich, ist Fort¬<lb/> schreiten, fortschreiten ist fortarbeiten; nur Arbeit, stetige und unausge¬<lb/> setzte Arbeit liefert den Fortschritt; Natur und Geschichte tragen dieses<lb/> Gepräge und führen diesen Beweis. Allerdings wird dadurch das unendliche<lb/> Leiden der Welt nicht aufgehoben, aber doch gemildert, und in der Arbeit ist<lb/> die einzig denkbare Aussicht auf ein endliches Aufhören desselben gegeben.<lb/> Wer vor dem „Gorgonenhaupt des menschlichen Elendes" zu Stein erstarrt<lb/> und in stummer thatenloser Verzweiflung auch andere von der Nutzlosigkeit<lb/> der Arbeit zu überzeugen sucht, arbeitet zwar auch auf seine Weise, aber rück¬<lb/> wärts; in der Trostlosigkeit liegt nicht das Mittel zum Bessern; sie ist der Uebel<lb/> größtes, und die schon vorhandene Summe braucht wahrlich nicht noch mit diesem<lb/> Zuwachs vermehrt zu werden. Leicht wird es dem Pessimismus unserer Tage,<lb/> die Schaar der Uebel aufzuzählen und aufzuwühlen, aber das Leichte ist nicht<lb/> das Beste; das Uebel zu besiegen muß unsere Aufgabe sein. Damit soll durch¬<lb/> aus nicht gesagt werden, daß die pessimistische Weltansicht, welche bekanntlich<lb/> bis auf Heraklit zurückgeht, mit einem Strich abzuthun oder gar unsinnig sei;<lb/> ihre Träger sind größtentheils tiefere, von den Räthseln des Daseins mehr<lb/> in Anspruch genommene und auch gewissenhaftere Denker, als die große Schaar<lb/> derer, welche, weil selbst irgend wie von des Lebens Huld angelächelt, nicht<lb/> genug Worte haben, zu preisen, „wie wirs' so herrlich weit gebracht", —<lb/> jedenfalls aber ist der Pessimismus die unfruchtbarere Anschauung, weil er<lb/> mit seinem Läugnen des Fortschritts auch das Prinzip der Arbeit läugnet,<lb/> ohne doch die behauptete Unmöglichkeit des Fortschritts beweisen zu können.<lb/> Wer aus der Entwicklung der Weltgeschichte das Gegentheil, nämlich wirk¬<lb/> lichen und absoluten Fortschritt zu erkennen glaubt, für den ist auch die Un¬<lb/> richtigkeit des Pessimismus, als eines objectiven Principes, bewiesen. Liegt<lb/> auch in der Arbeit noch nicht die Gewähr des einstigen großen Erfolges, so<lb/> doch die einzige Hoffnung auf einen solchen und der einzige Trost. Sie ist<lb/> es, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0388]
sollte, so wird im „Kunstwerk der Zukunft" auch der dramatischen Poesie
eine ganz andere Form angewiesen sein, das heißt, eine durch und durch
musikalische: in diesem Rückgriff auf längst verschollene, will sagen griechische
Art und Kunst würde dann, nach der Meinung vieler Aesttzetiker, der Fortschritt
unserer und späterer Jahrhunderte liegen — ein Fortschritt freilich, der eigent¬
lich bloß im Wiedergewinnen des längst Verlorenen läge. Insofern aber
der musikalische Bestandtheil dabei in Betracht kommt, so müßte wenigstens
aufdiesem Boden ein ungeheurer wirklicher Fortschritt angenommen werden.
Wie sehr die Musik noch vor hundert Jahren fortschrittsfähig und fort¬
schrittsbedürftig war, haben ihre Heroen bewiesen, l^ob sie es in eben solchem, ja
in erhöhtem Grade auch in unserer Zeit sei , oder zur Zeit noch nicht sei —
darüber tobt der Streit ja schon- lange! — Fortleben, mein' ich, ist Fort¬
schreiten, fortschreiten ist fortarbeiten; nur Arbeit, stetige und unausge¬
setzte Arbeit liefert den Fortschritt; Natur und Geschichte tragen dieses
Gepräge und führen diesen Beweis. Allerdings wird dadurch das unendliche
Leiden der Welt nicht aufgehoben, aber doch gemildert, und in der Arbeit ist
die einzig denkbare Aussicht auf ein endliches Aufhören desselben gegeben.
Wer vor dem „Gorgonenhaupt des menschlichen Elendes" zu Stein erstarrt
und in stummer thatenloser Verzweiflung auch andere von der Nutzlosigkeit
der Arbeit zu überzeugen sucht, arbeitet zwar auch auf seine Weise, aber rück¬
wärts; in der Trostlosigkeit liegt nicht das Mittel zum Bessern; sie ist der Uebel
größtes, und die schon vorhandene Summe braucht wahrlich nicht noch mit diesem
Zuwachs vermehrt zu werden. Leicht wird es dem Pessimismus unserer Tage,
die Schaar der Uebel aufzuzählen und aufzuwühlen, aber das Leichte ist nicht
das Beste; das Uebel zu besiegen muß unsere Aufgabe sein. Damit soll durch¬
aus nicht gesagt werden, daß die pessimistische Weltansicht, welche bekanntlich
bis auf Heraklit zurückgeht, mit einem Strich abzuthun oder gar unsinnig sei;
ihre Träger sind größtentheils tiefere, von den Räthseln des Daseins mehr
in Anspruch genommene und auch gewissenhaftere Denker, als die große Schaar
derer, welche, weil selbst irgend wie von des Lebens Huld angelächelt, nicht
genug Worte haben, zu preisen, „wie wirs' so herrlich weit gebracht", —
jedenfalls aber ist der Pessimismus die unfruchtbarere Anschauung, weil er
mit seinem Läugnen des Fortschritts auch das Prinzip der Arbeit läugnet,
ohne doch die behauptete Unmöglichkeit des Fortschritts beweisen zu können.
Wer aus der Entwicklung der Weltgeschichte das Gegentheil, nämlich wirk¬
lichen und absoluten Fortschritt zu erkennen glaubt, für den ist auch die Un¬
richtigkeit des Pessimismus, als eines objectiven Principes, bewiesen. Liegt
auch in der Arbeit noch nicht die Gewähr des einstigen großen Erfolges, so
doch die einzige Hoffnung auf einen solchen und der einzige Trost. Sie ist
es, die
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