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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Me Kanzel in der guten alten Zeit.
i.

Beinahe zu einer Alltäglichkeit geworden ist die durch aufmerksamere
culturgeschichtltche Studien gewonnene Ueberzeugung, daß die Redensart von
der alten guten Zeit eine starke Unkenntniß der Vergangenheit und eine
arge Verkennung der Gegenwart einschließt, und daß man im Hinblick auf
fast alle Gebiete des Lebens viel mehr berechtigt wäre von der alten schlechten,
schlimmen, bösen Zeit zu sprechen. Dennoch hört man jene Redensart in
manchen Kreisen noch oft genug, und so mag es nützlich sein, wenn gelegent¬
lich wieder einmal gezeigt wird, daß sie in der That hohl und unwahr ist.
Es ist richtig, man trug vor hundert oder zweihundert Jahren solider gear¬
beitete Stoffe, man trank reinere Weine, es gab überhaupt weniger Ver¬
fälschung als heute. Es gab keine Fortschrittschwätzer, keine Socialisten, keine
Gründer vom Stamme Nimm. Die Welt sah bunter, fröhlicher, gemüth¬
licher aus. Man war naiver, man übereiferte sich nicht, da es wenig Con-
currenz gab, man lebte langsamer und hatte festere Nerven. Auch frömmer
Waren unsre Urgroßväter und deren Väter, wenigstens gläubiger, jedenfalls
Waren die Kirchen voller als heutzutage. Gesunder an Leib und Seele aber,
wahrer, freier, sittlicher und im echten Sinne glücklicher war die alte Zeit
keinesweges.

Rohheit, Beschränktheit, Aberglaube in allen Schichten des Volkes bis
zu den höchsten hinauf. Kabinetskriege und Kabinetsjustiz, unvernünftige
Steuern, Maitressen- und Günstlingswirthschaft an den meisten Höfen, am
tollsten an den kleinen; bestechliche Richter, auf deren Tische bis ins vorige
Jahrhundert hinein der Hexenhammer lag, endlos lange Civilprozesse zur
Freude rabulistischer Advocaten, Galgen und Rad mit armen Sündern daran
vor jedem Thore; ein Zollschlagbaum an jeder der hundert Grenzen, welche
die Waaren namentlich süddeutscher Kaufleute von den Seestädten bis zu ihrem
Bestimmungsorte zu überschreiten hatten, grundlose Straßen, Schneckenposten,
schlechte Gesundheitspolizei und schlechte Sorge für die Armen, daher furcht¬
bares Wüthen von Seuchen, wenn sie sich einstellten, daher Massen von


Grenzboten II. 187K. 36
Me Kanzel in der guten alten Zeit.
i.

Beinahe zu einer Alltäglichkeit geworden ist die durch aufmerksamere
culturgeschichtltche Studien gewonnene Ueberzeugung, daß die Redensart von
der alten guten Zeit eine starke Unkenntniß der Vergangenheit und eine
arge Verkennung der Gegenwart einschließt, und daß man im Hinblick auf
fast alle Gebiete des Lebens viel mehr berechtigt wäre von der alten schlechten,
schlimmen, bösen Zeit zu sprechen. Dennoch hört man jene Redensart in
manchen Kreisen noch oft genug, und so mag es nützlich sein, wenn gelegent¬
lich wieder einmal gezeigt wird, daß sie in der That hohl und unwahr ist.
Es ist richtig, man trug vor hundert oder zweihundert Jahren solider gear¬
beitete Stoffe, man trank reinere Weine, es gab überhaupt weniger Ver¬
fälschung als heute. Es gab keine Fortschrittschwätzer, keine Socialisten, keine
Gründer vom Stamme Nimm. Die Welt sah bunter, fröhlicher, gemüth¬
licher aus. Man war naiver, man übereiferte sich nicht, da es wenig Con-
currenz gab, man lebte langsamer und hatte festere Nerven. Auch frömmer
Waren unsre Urgroßväter und deren Väter, wenigstens gläubiger, jedenfalls
Waren die Kirchen voller als heutzutage. Gesunder an Leib und Seele aber,
wahrer, freier, sittlicher und im echten Sinne glücklicher war die alte Zeit
keinesweges.

Rohheit, Beschränktheit, Aberglaube in allen Schichten des Volkes bis
zu den höchsten hinauf. Kabinetskriege und Kabinetsjustiz, unvernünftige
Steuern, Maitressen- und Günstlingswirthschaft an den meisten Höfen, am
tollsten an den kleinen; bestechliche Richter, auf deren Tische bis ins vorige
Jahrhundert hinein der Hexenhammer lag, endlos lange Civilprozesse zur
Freude rabulistischer Advocaten, Galgen und Rad mit armen Sündern daran
vor jedem Thore; ein Zollschlagbaum an jeder der hundert Grenzen, welche
die Waaren namentlich süddeutscher Kaufleute von den Seestädten bis zu ihrem
Bestimmungsorte zu überschreiten hatten, grundlose Straßen, Schneckenposten,
schlechte Gesundheitspolizei und schlechte Sorge für die Armen, daher furcht¬
bares Wüthen von Seuchen, wenn sie sich einstellten, daher Massen von


Grenzboten II. 187K. 36
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[0285] Me Kanzel in der guten alten Zeit. i. Beinahe zu einer Alltäglichkeit geworden ist die durch aufmerksamere culturgeschichtltche Studien gewonnene Ueberzeugung, daß die Redensart von der alten guten Zeit eine starke Unkenntniß der Vergangenheit und eine arge Verkennung der Gegenwart einschließt, und daß man im Hinblick auf fast alle Gebiete des Lebens viel mehr berechtigt wäre von der alten schlechten, schlimmen, bösen Zeit zu sprechen. Dennoch hört man jene Redensart in manchen Kreisen noch oft genug, und so mag es nützlich sein, wenn gelegent¬ lich wieder einmal gezeigt wird, daß sie in der That hohl und unwahr ist. Es ist richtig, man trug vor hundert oder zweihundert Jahren solider gear¬ beitete Stoffe, man trank reinere Weine, es gab überhaupt weniger Ver¬ fälschung als heute. Es gab keine Fortschrittschwätzer, keine Socialisten, keine Gründer vom Stamme Nimm. Die Welt sah bunter, fröhlicher, gemüth¬ licher aus. Man war naiver, man übereiferte sich nicht, da es wenig Con- currenz gab, man lebte langsamer und hatte festere Nerven. Auch frömmer Waren unsre Urgroßväter und deren Väter, wenigstens gläubiger, jedenfalls Waren die Kirchen voller als heutzutage. Gesunder an Leib und Seele aber, wahrer, freier, sittlicher und im echten Sinne glücklicher war die alte Zeit keinesweges. Rohheit, Beschränktheit, Aberglaube in allen Schichten des Volkes bis zu den höchsten hinauf. Kabinetskriege und Kabinetsjustiz, unvernünftige Steuern, Maitressen- und Günstlingswirthschaft an den meisten Höfen, am tollsten an den kleinen; bestechliche Richter, auf deren Tische bis ins vorige Jahrhundert hinein der Hexenhammer lag, endlos lange Civilprozesse zur Freude rabulistischer Advocaten, Galgen und Rad mit armen Sündern daran vor jedem Thore; ein Zollschlagbaum an jeder der hundert Grenzen, welche die Waaren namentlich süddeutscher Kaufleute von den Seestädten bis zu ihrem Bestimmungsorte zu überschreiten hatten, grundlose Straßen, Schneckenposten, schlechte Gesundheitspolizei und schlechte Sorge für die Armen, daher furcht¬ bares Wüthen von Seuchen, wenn sie sich einstellten, daher Massen von Grenzboten II. 187K. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/285>, abgerufen am 29.05.2024.