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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Unfähigkeit die quantitativen Merkmale der Wirklichkeit zu begreisen, der
selbstgestellten Sisyvhusaufgabe einer dogmatischen Welterklärung nicht ge¬
wachsen ist. Nachdem dann ein kürzeres Kapitel mit mathematischer Strenge
die Relativität und den interimistischen Charakter des Atombegriffs klargelegt
hat, widmen sich einige enger zusammenhängende Untersuchungen der modernen
Schöpfungs- und Descendenztheorie. "Platonismus und Darwinismus --"
"Aphorismen zur Kosmogonie"das Problem des Lebens" sind diese
Kapitel überschrieben; und ihr Ergebniß geht dahin, daß der Darwinismus
noch weit mehr als die Kant-Laplace'sche Kosmogonie nebst ihrer geologischen
Fortsetzung bis zum Ursprung organischen Lebens hinauf, die gegebenen Er¬
scheinungen zwar auf ihre empirischen Veranlassungen (ooeasionös) zurück¬
führt, dabei aber die eigentlich treibenden und wirkenden Naturagentien
(eg.u3g.e Meiölltos) im Dunkel läßt. Daraus folgt dann die Vereinbarkett
dieser neueren Theorieen mit der Annahme eines Ewigen und Beharrlichen
im heraklitischen Werdefluß, der Annahme eines Reiches platonischer Ideen,
d. i. constanter, typischer Gesetzescomplexionen, innerhalb welcher die causale
Entwicklung zu bestimmten, zweckmäßigen Organisalionsstufen führen muß.
Es ergibt sich, bet der im ersten Abschnitt schon exakt erwiesenen Idealität
der Zeit, außerdem der überraschende Schluß, daß unsere mechanische Natur¬
auffassung ganz ohne Abzug und Einschränkung in eine Weltansicht aufnehm¬
bar ist, welche der erscheinenden Wirklichkeit eine absolute, nach ewigen Ideen
waltende Weltintelligenz zu Grunde legt. Also - vollständige Versöhnung
zwischen scheinbar diametral entgegengesetzten Parteistandpunkten! Die Be¬
frachtungen über den "Jnstinct", diese mysteriöse, mit bloßer Physiologie
nimmermehr zu bewältigende Naturstufe der Intelligenz, leiten zu den rein
Psychologischen Kapiteln hinüber. Hier treffen wir zunächst auf einen anti-
nominalistischen Nachweis der psychologischen Realität unbildlicher Gedanken,
abstrakter Begriffe und somit einer übersinnlichen Verstandesthätigkeit in der
menschlichen Intelligenz; unsres Ermessens einer Frage von principieller
Wichtigkeit, welche Liebmann mittelst einer bisher nie in Anwendung ge¬
brachten Methode aufs scharfsinnigste gelöst hat. Die sich hieran schließende
Grenzbestimmung zwischen Menschen- und Thierverstand mag denen, welche
dem Ursprung der Sprache nachforschen, als Fingerzeig auf die psychologische
Seite dieses Räthsels dienlich sein. Hervorragende Bedeutung kommt aber
namentlich dem Schlußkapitel dieses Abschnitts zu, welches unter dem Titel
..Gehirn und Geist" die schwere Frage nach dem substantiellen Verhältniß
zwischen Leib und Seele bis in ein letztes, scharf formulirtes, von unsern po¬
pulären Materialisten bis jetzt völlig übersehenes Problem zuspitzt, dem gegen¬
über allein die Alternative übrig bleibt: Entweder der Materialismus ist als
unzulängliche Hypothese aufzugeben oder die "Natur ist etwas Anderes, ist


Unfähigkeit die quantitativen Merkmale der Wirklichkeit zu begreisen, der
selbstgestellten Sisyvhusaufgabe einer dogmatischen Welterklärung nicht ge¬
wachsen ist. Nachdem dann ein kürzeres Kapitel mit mathematischer Strenge
die Relativität und den interimistischen Charakter des Atombegriffs klargelegt
hat, widmen sich einige enger zusammenhängende Untersuchungen der modernen
Schöpfungs- und Descendenztheorie. „Platonismus und Darwinismus —"
„Aphorismen zur Kosmogonie„das Problem des Lebens" sind diese
Kapitel überschrieben; und ihr Ergebniß geht dahin, daß der Darwinismus
noch weit mehr als die Kant-Laplace'sche Kosmogonie nebst ihrer geologischen
Fortsetzung bis zum Ursprung organischen Lebens hinauf, die gegebenen Er¬
scheinungen zwar auf ihre empirischen Veranlassungen (ooeasionös) zurück¬
führt, dabei aber die eigentlich treibenden und wirkenden Naturagentien
(eg.u3g.e Meiölltos) im Dunkel läßt. Daraus folgt dann die Vereinbarkett
dieser neueren Theorieen mit der Annahme eines Ewigen und Beharrlichen
im heraklitischen Werdefluß, der Annahme eines Reiches platonischer Ideen,
d. i. constanter, typischer Gesetzescomplexionen, innerhalb welcher die causale
Entwicklung zu bestimmten, zweckmäßigen Organisalionsstufen führen muß.
Es ergibt sich, bet der im ersten Abschnitt schon exakt erwiesenen Idealität
der Zeit, außerdem der überraschende Schluß, daß unsere mechanische Natur¬
auffassung ganz ohne Abzug und Einschränkung in eine Weltansicht aufnehm¬
bar ist, welche der erscheinenden Wirklichkeit eine absolute, nach ewigen Ideen
waltende Weltintelligenz zu Grunde legt. Also - vollständige Versöhnung
zwischen scheinbar diametral entgegengesetzten Parteistandpunkten! Die Be¬
frachtungen über den „Jnstinct", diese mysteriöse, mit bloßer Physiologie
nimmermehr zu bewältigende Naturstufe der Intelligenz, leiten zu den rein
Psychologischen Kapiteln hinüber. Hier treffen wir zunächst auf einen anti-
nominalistischen Nachweis der psychologischen Realität unbildlicher Gedanken,
abstrakter Begriffe und somit einer übersinnlichen Verstandesthätigkeit in der
menschlichen Intelligenz; unsres Ermessens einer Frage von principieller
Wichtigkeit, welche Liebmann mittelst einer bisher nie in Anwendung ge¬
brachten Methode aufs scharfsinnigste gelöst hat. Die sich hieran schließende
Grenzbestimmung zwischen Menschen- und Thierverstand mag denen, welche
dem Ursprung der Sprache nachforschen, als Fingerzeig auf die psychologische
Seite dieses Räthsels dienlich sein. Hervorragende Bedeutung kommt aber
namentlich dem Schlußkapitel dieses Abschnitts zu, welches unter dem Titel
..Gehirn und Geist" die schwere Frage nach dem substantiellen Verhältniß
zwischen Leib und Seele bis in ein letztes, scharf formulirtes, von unsern po¬
pulären Materialisten bis jetzt völlig übersehenes Problem zuspitzt, dem gegen¬
über allein die Alternative übrig bleibt: Entweder der Materialismus ist als
unzulängliche Hypothese aufzugeben oder die „Natur ist etwas Anderes, ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/123>, abgerufen am 27.04.2024.