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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Eine sachliche Unrichtigkeit nachzuweisen. In einzelnen Abschnitten freilich, wie
z. B. dem über das Zeitalter der Scholastik, vermeidet er die Unrichtigkeiten
auf sinnige Weise, indem er über den Gegenstand selbst gar nichts sagt, in
andern sind sie so zahlreich, daß die ganze Darstellung -- römische Ver¬
fassung, Feudalismus z. B.. nur Einen Fehler bildet.

Dieß gilt im Allgemeinen auch von dem Abschnitt über die Reforma¬
tion: doch erfahren wir hier gelegentlich S. 680 "die Deutschen waren schon
lange ein Volk von Denkern d. h. sie dachten viel", wozu wir dem Leser als ein
Seitenstück das große Wort nicht vorenthalten wollen, welches der Versasser
S. 740 ebenso gelassen über die Engländer ausspricht: "die Engländer sind
nicht die absolut erfinderischste Nation, aber sie sind das absolut erfindungs¬
reichste Volk." S. 682 "In Holland und den Niederlanden tauchte die mystische
Sekte der Wiedertäufer auf:" "an Stelle des fleischlichen trat ein papierner
Papst" und S. 684 "der protestantische Bibelglaube war als Schranke gegen
freie wissenschaftliche Forschung wirksamer als Syllabus und Eneyklika
zusammen." Dann fährt das Buch fort: "Obwohl dieses straffe (sie)
Anspannen der Gläubigkeit seine Rückwirkung auch auf den Katholicismus
nicht verfehlte, hat dieser doch im Großen und Ganzen der Wissenschaft
weniger Hindernisse in den Weg gestellt, als der Protestantismus,
dessen zwei Entwicklungsphasen Pietismus und Muckerthum,
in der Geschichte der Cultur ihres Gleichen suchen."

Mit S. 686 beginnt die "Entwicklung der modernen Kultur." "In der
Geschichte spielt das Bewußtsein keine Rolle", versichert H. v. H. S. 688 und
oft: in dieser Darstellung der Geschichte wenigstens spielt es eine sehr ge¬
ringe Rolle. Was im Folgenden mitgetheilt werden muß, ist wirklich wie
zwischen Schlafen und Wachen geschrieben, S. 699 "Blutige Aufstände be¬
zeichnen zwar die britische Herrschaft auf Irland, welche die im eigenen Lande
freisinnigen Engländer sich nicht scheuten mit harter Hand im grünen Erin
auszuüben." Ebenda: "Die insulare Isolierung Englands wird in
der Schweiz durch die Unzugänglichkeit dieses unwegsamen Alpenlands er¬
setzt." S. 701 entwirft H. v. H. ein "Gemälde der socialen Zustände bis
zur französischen Revolution:" von welchem Land, Volk, Erdtheil eigentlich
die Rede ist, müssen wir selber errathen. Er beginnt: "Die Menschen, ohne
Gemeinsinn, vegetirten im Elend"--"die Hexenprozesse standen im üppig¬
sten Flor." Ganz in demselben Zusammenhang heißt es dann S. 703,
von derselben vorrevolutionären Zeit "unter solchen Umständen war auch
das "Elend" nicht so arg; das Volk vegetirte nicht, es lebte." Wir
müssen uns dabei so mancher anderen Stelle erinnern, wo die zweite
Seite nimmt, was die erste gegeben. S. 176 z. B. heißt es von den Juden
"der geistige Vorrath des ideenarme" Volks war bald erschöpft" und gleich auf


Eine sachliche Unrichtigkeit nachzuweisen. In einzelnen Abschnitten freilich, wie
z. B. dem über das Zeitalter der Scholastik, vermeidet er die Unrichtigkeiten
auf sinnige Weise, indem er über den Gegenstand selbst gar nichts sagt, in
andern sind sie so zahlreich, daß die ganze Darstellung — römische Ver¬
fassung, Feudalismus z. B.. nur Einen Fehler bildet.

Dieß gilt im Allgemeinen auch von dem Abschnitt über die Reforma¬
tion: doch erfahren wir hier gelegentlich S. 680 „die Deutschen waren schon
lange ein Volk von Denkern d. h. sie dachten viel", wozu wir dem Leser als ein
Seitenstück das große Wort nicht vorenthalten wollen, welches der Versasser
S. 740 ebenso gelassen über die Engländer ausspricht: „die Engländer sind
nicht die absolut erfinderischste Nation, aber sie sind das absolut erfindungs¬
reichste Volk." S. 682 „In Holland und den Niederlanden tauchte die mystische
Sekte der Wiedertäufer auf:" „an Stelle des fleischlichen trat ein papierner
Papst" und S. 684 „der protestantische Bibelglaube war als Schranke gegen
freie wissenschaftliche Forschung wirksamer als Syllabus und Eneyklika
zusammen." Dann fährt das Buch fort: „Obwohl dieses straffe (sie)
Anspannen der Gläubigkeit seine Rückwirkung auch auf den Katholicismus
nicht verfehlte, hat dieser doch im Großen und Ganzen der Wissenschaft
weniger Hindernisse in den Weg gestellt, als der Protestantismus,
dessen zwei Entwicklungsphasen Pietismus und Muckerthum,
in der Geschichte der Cultur ihres Gleichen suchen."

Mit S. 686 beginnt die „Entwicklung der modernen Kultur." „In der
Geschichte spielt das Bewußtsein keine Rolle", versichert H. v. H. S. 688 und
oft: in dieser Darstellung der Geschichte wenigstens spielt es eine sehr ge¬
ringe Rolle. Was im Folgenden mitgetheilt werden muß, ist wirklich wie
zwischen Schlafen und Wachen geschrieben, S. 699 „Blutige Aufstände be¬
zeichnen zwar die britische Herrschaft auf Irland, welche die im eigenen Lande
freisinnigen Engländer sich nicht scheuten mit harter Hand im grünen Erin
auszuüben." Ebenda: „Die insulare Isolierung Englands wird in
der Schweiz durch die Unzugänglichkeit dieses unwegsamen Alpenlands er¬
setzt." S. 701 entwirft H. v. H. ein „Gemälde der socialen Zustände bis
zur französischen Revolution:" von welchem Land, Volk, Erdtheil eigentlich
die Rede ist, müssen wir selber errathen. Er beginnt: „Die Menschen, ohne
Gemeinsinn, vegetirten im Elend"--„die Hexenprozesse standen im üppig¬
sten Flor." Ganz in demselben Zusammenhang heißt es dann S. 703,
von derselben vorrevolutionären Zeit „unter solchen Umständen war auch
das „Elend" nicht so arg; das Volk vegetirte nicht, es lebte." Wir
müssen uns dabei so mancher anderen Stelle erinnern, wo die zweite
Seite nimmt, was die erste gegeben. S. 176 z. B. heißt es von den Juden
„der geistige Vorrath des ideenarme» Volks war bald erschöpft" und gleich auf


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[0139] Eine sachliche Unrichtigkeit nachzuweisen. In einzelnen Abschnitten freilich, wie z. B. dem über das Zeitalter der Scholastik, vermeidet er die Unrichtigkeiten auf sinnige Weise, indem er über den Gegenstand selbst gar nichts sagt, in andern sind sie so zahlreich, daß die ganze Darstellung — römische Ver¬ fassung, Feudalismus z. B.. nur Einen Fehler bildet. Dieß gilt im Allgemeinen auch von dem Abschnitt über die Reforma¬ tion: doch erfahren wir hier gelegentlich S. 680 „die Deutschen waren schon lange ein Volk von Denkern d. h. sie dachten viel", wozu wir dem Leser als ein Seitenstück das große Wort nicht vorenthalten wollen, welches der Versasser S. 740 ebenso gelassen über die Engländer ausspricht: „die Engländer sind nicht die absolut erfinderischste Nation, aber sie sind das absolut erfindungs¬ reichste Volk." S. 682 „In Holland und den Niederlanden tauchte die mystische Sekte der Wiedertäufer auf:" „an Stelle des fleischlichen trat ein papierner Papst" und S. 684 „der protestantische Bibelglaube war als Schranke gegen freie wissenschaftliche Forschung wirksamer als Syllabus und Eneyklika zusammen." Dann fährt das Buch fort: „Obwohl dieses straffe (sie) Anspannen der Gläubigkeit seine Rückwirkung auch auf den Katholicismus nicht verfehlte, hat dieser doch im Großen und Ganzen der Wissenschaft weniger Hindernisse in den Weg gestellt, als der Protestantismus, dessen zwei Entwicklungsphasen Pietismus und Muckerthum, in der Geschichte der Cultur ihres Gleichen suchen." Mit S. 686 beginnt die „Entwicklung der modernen Kultur." „In der Geschichte spielt das Bewußtsein keine Rolle", versichert H. v. H. S. 688 und oft: in dieser Darstellung der Geschichte wenigstens spielt es eine sehr ge¬ ringe Rolle. Was im Folgenden mitgetheilt werden muß, ist wirklich wie zwischen Schlafen und Wachen geschrieben, S. 699 „Blutige Aufstände be¬ zeichnen zwar die britische Herrschaft auf Irland, welche die im eigenen Lande freisinnigen Engländer sich nicht scheuten mit harter Hand im grünen Erin auszuüben." Ebenda: „Die insulare Isolierung Englands wird in der Schweiz durch die Unzugänglichkeit dieses unwegsamen Alpenlands er¬ setzt." S. 701 entwirft H. v. H. ein „Gemälde der socialen Zustände bis zur französischen Revolution:" von welchem Land, Volk, Erdtheil eigentlich die Rede ist, müssen wir selber errathen. Er beginnt: „Die Menschen, ohne Gemeinsinn, vegetirten im Elend"--„die Hexenprozesse standen im üppig¬ sten Flor." Ganz in demselben Zusammenhang heißt es dann S. 703, von derselben vorrevolutionären Zeit „unter solchen Umständen war auch das „Elend" nicht so arg; das Volk vegetirte nicht, es lebte." Wir müssen uns dabei so mancher anderen Stelle erinnern, wo die zweite Seite nimmt, was die erste gegeben. S. 176 z. B. heißt es von den Juden „der geistige Vorrath des ideenarme» Volks war bald erschöpft" und gleich auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/139>, abgerufen am 18.05.2024.