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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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Was aber will Rußland in der orientalischen Frage? Gemeiniglich
ist man mit der Antwort rasch zur Hand und weist auf den Testaments¬
mythus Peter des Großen hin. Die russische Politik ist aber zu klug. als
daß es ihr nach dem Vollbesitze des Osmanenreiches gelüsten könnte, nicht
nur weil das ganze übrige Europa dem entgegentreten, sondern auch weil
eine so gewaltige Ausdehnung den Bestand des russischen Staates sehr bald
in Frage stellen würde. Der Erwerb ließe sich einfach nicht verdauen. Aber
Rußland will sich den Ausgang aus dem Schwarzen Meere zum Mittelmeer ge¬
sichert sehen, und es will seinen Glaubens- und Stammesgenossen, welche heute
noch unter der Herrschaft des Padischah stehen, zu einer ihnen mehr zu¬
sagenden Stellung verhelfen. Die religiöse Verwandtschaft hat Rußland auf
der einen Seite die Beschützerrolle zugebracht, und es trug nicht einen Augen¬
blick Bedenken, diese Rolle auch ununterbrochen mit Consequenz festzuhalten,
und auf der andern Seite richteten sich die Blicke der Südslaven auf Ru߬
land, da Oesterreich nach den Tagen des Prinzen Eugen es aufgegeben hatte,
den Schützer und Schirmer der an seinen Südmarken wohnenden Völker¬
schaften zu machen. So gewann Rußlands Einfluß festen Boden, und es ist
eine Thatsache, daß dessen mit Hülfe des kirchlichen Einflußes um so dichter
gesponnene Fäden in allen von Slaven bewohnten türkischen Ländern ein
wohl angelegtes Netz bilden. Auf Rußland sind die Augen Aller gerichtet,
von ihm erwarten sie ihr Heil und ihre Erlösung. Es hieße von Rußland
eine unmögliche Selbstverläugnung verlangen, wenn es seine Schützlinge im
Stich lassen, ihr Vertrauen täuschen und auf die mit so großer Anstrengung
und mit so seltener Consequenz erworbene Stellung verzichten sollte. Aus
dieser Rolle gewinnt man aber das Verständniß von dem, was Rußland im
Auge hat. Es will die Auflösung der europäischen Türkei in eine Reihe von
einzelnen Staaten, welche in einer freundschaftlichen Beziehung zu Rußland
stehen und diesem dadurch die freie Verbindung mit dem Mittelmeer sichern.
Schwer dürfte es sein, alle Länder unter einen Hut zu bringen, weil mancherlei
Verschiedenheiten obwalten und Slaven, Griechen, Rumänier und die zwischen
Slaven- und Griechenthum schwankenden Bulgaren sich nicht bereitwillig der¬
selben Vorherrschaft unterwerfen würden. Dieser Entwicklungsgang ist aber
zugleich jener, welcher als der natürliche sich ergiebt, in dem Maße, als die
Auflösung des Osmanen - Reiches fortschreitet. Es ist nicht gesagt, daß er
mit einem Male sich vollziehen werde, aber dem kundigen Auge zeigen sich
bereits die Sprünge, an welchen die einzelnen Gruppen sich absetzen werden,
und einen solchen Sprung soll die heutige Bewegung erweitern.

Die Thesis von der unbedingten Aufrechthaltung der türkischen In¬
tegrität wird auch in England nicht mehr festgehalten, und wenn auch dieses
in der Besorgniß vor einem russischen Handstreiche einigen energischen Lärm


Was aber will Rußland in der orientalischen Frage? Gemeiniglich
ist man mit der Antwort rasch zur Hand und weist auf den Testaments¬
mythus Peter des Großen hin. Die russische Politik ist aber zu klug. als
daß es ihr nach dem Vollbesitze des Osmanenreiches gelüsten könnte, nicht
nur weil das ganze übrige Europa dem entgegentreten, sondern auch weil
eine so gewaltige Ausdehnung den Bestand des russischen Staates sehr bald
in Frage stellen würde. Der Erwerb ließe sich einfach nicht verdauen. Aber
Rußland will sich den Ausgang aus dem Schwarzen Meere zum Mittelmeer ge¬
sichert sehen, und es will seinen Glaubens- und Stammesgenossen, welche heute
noch unter der Herrschaft des Padischah stehen, zu einer ihnen mehr zu¬
sagenden Stellung verhelfen. Die religiöse Verwandtschaft hat Rußland auf
der einen Seite die Beschützerrolle zugebracht, und es trug nicht einen Augen¬
blick Bedenken, diese Rolle auch ununterbrochen mit Consequenz festzuhalten,
und auf der andern Seite richteten sich die Blicke der Südslaven auf Ru߬
land, da Oesterreich nach den Tagen des Prinzen Eugen es aufgegeben hatte,
den Schützer und Schirmer der an seinen Südmarken wohnenden Völker¬
schaften zu machen. So gewann Rußlands Einfluß festen Boden, und es ist
eine Thatsache, daß dessen mit Hülfe des kirchlichen Einflußes um so dichter
gesponnene Fäden in allen von Slaven bewohnten türkischen Ländern ein
wohl angelegtes Netz bilden. Auf Rußland sind die Augen Aller gerichtet,
von ihm erwarten sie ihr Heil und ihre Erlösung. Es hieße von Rußland
eine unmögliche Selbstverläugnung verlangen, wenn es seine Schützlinge im
Stich lassen, ihr Vertrauen täuschen und auf die mit so großer Anstrengung
und mit so seltener Consequenz erworbene Stellung verzichten sollte. Aus
dieser Rolle gewinnt man aber das Verständniß von dem, was Rußland im
Auge hat. Es will die Auflösung der europäischen Türkei in eine Reihe von
einzelnen Staaten, welche in einer freundschaftlichen Beziehung zu Rußland
stehen und diesem dadurch die freie Verbindung mit dem Mittelmeer sichern.
Schwer dürfte es sein, alle Länder unter einen Hut zu bringen, weil mancherlei
Verschiedenheiten obwalten und Slaven, Griechen, Rumänier und die zwischen
Slaven- und Griechenthum schwankenden Bulgaren sich nicht bereitwillig der¬
selben Vorherrschaft unterwerfen würden. Dieser Entwicklungsgang ist aber
zugleich jener, welcher als der natürliche sich ergiebt, in dem Maße, als die
Auflösung des Osmanen - Reiches fortschreitet. Es ist nicht gesagt, daß er
mit einem Male sich vollziehen werde, aber dem kundigen Auge zeigen sich
bereits die Sprünge, an welchen die einzelnen Gruppen sich absetzen werden,
und einen solchen Sprung soll die heutige Bewegung erweitern.

Die Thesis von der unbedingten Aufrechthaltung der türkischen In¬
tegrität wird auch in England nicht mehr festgehalten, und wenn auch dieses
in der Besorgniß vor einem russischen Handstreiche einigen energischen Lärm


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[0380] Was aber will Rußland in der orientalischen Frage? Gemeiniglich ist man mit der Antwort rasch zur Hand und weist auf den Testaments¬ mythus Peter des Großen hin. Die russische Politik ist aber zu klug. als daß es ihr nach dem Vollbesitze des Osmanenreiches gelüsten könnte, nicht nur weil das ganze übrige Europa dem entgegentreten, sondern auch weil eine so gewaltige Ausdehnung den Bestand des russischen Staates sehr bald in Frage stellen würde. Der Erwerb ließe sich einfach nicht verdauen. Aber Rußland will sich den Ausgang aus dem Schwarzen Meere zum Mittelmeer ge¬ sichert sehen, und es will seinen Glaubens- und Stammesgenossen, welche heute noch unter der Herrschaft des Padischah stehen, zu einer ihnen mehr zu¬ sagenden Stellung verhelfen. Die religiöse Verwandtschaft hat Rußland auf der einen Seite die Beschützerrolle zugebracht, und es trug nicht einen Augen¬ blick Bedenken, diese Rolle auch ununterbrochen mit Consequenz festzuhalten, und auf der andern Seite richteten sich die Blicke der Südslaven auf Ru߬ land, da Oesterreich nach den Tagen des Prinzen Eugen es aufgegeben hatte, den Schützer und Schirmer der an seinen Südmarken wohnenden Völker¬ schaften zu machen. So gewann Rußlands Einfluß festen Boden, und es ist eine Thatsache, daß dessen mit Hülfe des kirchlichen Einflußes um so dichter gesponnene Fäden in allen von Slaven bewohnten türkischen Ländern ein wohl angelegtes Netz bilden. Auf Rußland sind die Augen Aller gerichtet, von ihm erwarten sie ihr Heil und ihre Erlösung. Es hieße von Rußland eine unmögliche Selbstverläugnung verlangen, wenn es seine Schützlinge im Stich lassen, ihr Vertrauen täuschen und auf die mit so großer Anstrengung und mit so seltener Consequenz erworbene Stellung verzichten sollte. Aus dieser Rolle gewinnt man aber das Verständniß von dem, was Rußland im Auge hat. Es will die Auflösung der europäischen Türkei in eine Reihe von einzelnen Staaten, welche in einer freundschaftlichen Beziehung zu Rußland stehen und diesem dadurch die freie Verbindung mit dem Mittelmeer sichern. Schwer dürfte es sein, alle Länder unter einen Hut zu bringen, weil mancherlei Verschiedenheiten obwalten und Slaven, Griechen, Rumänier und die zwischen Slaven- und Griechenthum schwankenden Bulgaren sich nicht bereitwillig der¬ selben Vorherrschaft unterwerfen würden. Dieser Entwicklungsgang ist aber zugleich jener, welcher als der natürliche sich ergiebt, in dem Maße, als die Auflösung des Osmanen - Reiches fortschreitet. Es ist nicht gesagt, daß er mit einem Male sich vollziehen werde, aber dem kundigen Auge zeigen sich bereits die Sprünge, an welchen die einzelnen Gruppen sich absetzen werden, und einen solchen Sprung soll die heutige Bewegung erweitern. Die Thesis von der unbedingten Aufrechthaltung der türkischen In¬ tegrität wird auch in England nicht mehr festgehalten, und wenn auch dieses in der Besorgniß vor einem russischen Handstreiche einigen energischen Lärm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/380>, abgerufen am 30.05.2024.