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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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den. -- Ich sagte früher, diese anscheinend technische Frage habe eine poli¬
tische Bedeutung. Diese ist folgende. In der kurzen Wirkungsdauer der
Kreisordnung von 1872 hat man entdeckt, was jeder Einsichtige vorher
wissen konnte, daß man mit diesem Gesetz, desgleichen mit der Provinzial-
ordnung von 1875 auf dem Wege ist, eine Selbstverwaltungsaristokratie
des ländlichen Grundbesitzes heraufzuziehen. Darob großer Schrecken von
der linken Seite des Liberalismus bis in das liberale Centrum hinein.
Nun möchte man dieser unerwünschten Folge durch verschiedene Mittel
begegnen. Ein solches sehr gefährliches Mittel, dessen Application hoffent¬
lich nie gelingen wird, ist eine radikale ländliche Gemeindeordnung, womög¬
lich auf allgemeines Stimmrecht basirt, und weiter ti" Abhängigkeit der
höheren Selbstverwaltungsstufen von den demokratisch ernannten und von
der Gemeindedemokratie abhängigen Gemeindevorständen. Ein zweites nicht
so schädliches, aber doch auch unzweckmäßiges Mittel ist die Einreihung
des Landrathsamtes in den bureaukratischen Charakter. Nach unserer Mei¬
nung sollten die Kreistage sowohl als die Staatsregierung in der Auswahl
der Landrathskandidaten unbeschränkt sein. Gerade das Landrathsamt ist ein
solches, worin ein unbefähigter Bekleider sich nicht lange halten kann, während
in einem Collegium unbefähigte Personen lange mitgeschleppt werden können.
Diese Natur des Landrathsamtes, wie es namentlich durch die neue Kreis¬
ordnung geworden ist, wird ohne Examen und Vorbereitungsvorschriften be¬
wirken, daß Kreistage, Staatsregierung und namentlich auch die Kandidaten
selbst sorgfältig prüfen, ob letztere dem Amte gewachsen sind.

Am 17. Juni wurde der Cultusminister im Herrenhaus interpellirt
wegen angeblicher Begünstigung der sogenannten Simultanschulen auf Kosten
der confessionellen. Der Cultusminister, der diese Schulen lieber paritätische
nennen wollte, lehnte die Unterstellung unmotivirter Begünstigung solcher
Schulen ab. Nur wo die Schwierigkeit vorliege, für confessionell getrennte
Schulen, die genügende Zahl der Zöglinge aufzubringen, würden Simultan¬
schulen errichtet, oder auch wo die confessionelle Schule zur Verhetzung der
Volkstheile verschiedener Confesston gegeneinander mißbraucht werde. Nicht
mit Unrecht entgegnete unseres Bedünkens auf den letzten Punkt der Graf
Udo zu Stollberg, daß die Simultanschulen thatsächlich fast immer nur der
evangelischen Kirche zum Nachtheil gereichen, indem aus der Simultanschule,
namentlich in Gegenden, wo die Protestanten in der Minorität sind, in der
Regel eine katholische Schule zu werden pflegt.

Am 19. Juni beriethen die Herren das Gesetz über die Geschäftssprache
der Behörden und politischen Körperschaften, was einigen polnischen Herren
zu unmäßigen Ausbrüchen ihres Nationalgefühls Anlaß gab, welches diesmal
sehr am unrechten Orte sich verletzt fühlte. Darauf folgte am 20. Juni die


den. — Ich sagte früher, diese anscheinend technische Frage habe eine poli¬
tische Bedeutung. Diese ist folgende. In der kurzen Wirkungsdauer der
Kreisordnung von 1872 hat man entdeckt, was jeder Einsichtige vorher
wissen konnte, daß man mit diesem Gesetz, desgleichen mit der Provinzial-
ordnung von 1875 auf dem Wege ist, eine Selbstverwaltungsaristokratie
des ländlichen Grundbesitzes heraufzuziehen. Darob großer Schrecken von
der linken Seite des Liberalismus bis in das liberale Centrum hinein.
Nun möchte man dieser unerwünschten Folge durch verschiedene Mittel
begegnen. Ein solches sehr gefährliches Mittel, dessen Application hoffent¬
lich nie gelingen wird, ist eine radikale ländliche Gemeindeordnung, womög¬
lich auf allgemeines Stimmrecht basirt, und weiter ti« Abhängigkeit der
höheren Selbstverwaltungsstufen von den demokratisch ernannten und von
der Gemeindedemokratie abhängigen Gemeindevorständen. Ein zweites nicht
so schädliches, aber doch auch unzweckmäßiges Mittel ist die Einreihung
des Landrathsamtes in den bureaukratischen Charakter. Nach unserer Mei¬
nung sollten die Kreistage sowohl als die Staatsregierung in der Auswahl
der Landrathskandidaten unbeschränkt sein. Gerade das Landrathsamt ist ein
solches, worin ein unbefähigter Bekleider sich nicht lange halten kann, während
in einem Collegium unbefähigte Personen lange mitgeschleppt werden können.
Diese Natur des Landrathsamtes, wie es namentlich durch die neue Kreis¬
ordnung geworden ist, wird ohne Examen und Vorbereitungsvorschriften be¬
wirken, daß Kreistage, Staatsregierung und namentlich auch die Kandidaten
selbst sorgfältig prüfen, ob letztere dem Amte gewachsen sind.

Am 17. Juni wurde der Cultusminister im Herrenhaus interpellirt
wegen angeblicher Begünstigung der sogenannten Simultanschulen auf Kosten
der confessionellen. Der Cultusminister, der diese Schulen lieber paritätische
nennen wollte, lehnte die Unterstellung unmotivirter Begünstigung solcher
Schulen ab. Nur wo die Schwierigkeit vorliege, für confessionell getrennte
Schulen, die genügende Zahl der Zöglinge aufzubringen, würden Simultan¬
schulen errichtet, oder auch wo die confessionelle Schule zur Verhetzung der
Volkstheile verschiedener Confesston gegeneinander mißbraucht werde. Nicht
mit Unrecht entgegnete unseres Bedünkens auf den letzten Punkt der Graf
Udo zu Stollberg, daß die Simultanschulen thatsächlich fast immer nur der
evangelischen Kirche zum Nachtheil gereichen, indem aus der Simultanschule,
namentlich in Gegenden, wo die Protestanten in der Minorität sind, in der
Regel eine katholische Schule zu werden pflegt.

Am 19. Juni beriethen die Herren das Gesetz über die Geschäftssprache
der Behörden und politischen Körperschaften, was einigen polnischen Herren
zu unmäßigen Ausbrüchen ihres Nationalgefühls Anlaß gab, welches diesmal
sehr am unrechten Orte sich verletzt fühlte. Darauf folgte am 20. Juni die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/39>, abgerufen am 29.04.2024.