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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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ständige Lehre Kant's, aber es sind ihre beiden Hauptresultate. Das Wichtigste,
was Hegel der Lehre Kant's hinzufügte, war das Verständniß der Entfaltung
der Zweckidee oder das Verständniß des Kulturprozesses als eines gesetzmäßigen
Verlaufes, nicht im Sinne der Naturgesetzmäßigkeit, sondern einer höhern
geistigen Gesetzmäßigkeit.

Die heutige Generation, obwohl sie sich anscheinend sehr viel mit Kant
beschäftigt, hat nicht mehr die Kraft, in seiner geistigen Luft zu athmen.
Sie ist völlig in den Dogmatismus zurückgefallen, der den Weltzusammen¬
hang zu erfahren glaubt und in demselben Athem erklärt, daß man nur
Einzelnes und Widersprechendes erfahren kann. Für die einzige erfahrene
Gesetzmäßigkeit wird die mechanische Causalität erklärt, obwohl auch diese
in Wahrheit niemals Produkt der Erfahrung sein kann, die Zweckidee wird
eliminirt nicht nur aus der Natur, sondern auch aus der geistigen Welt
nachdem das geistige Leben zur Naturerscheinung erklärt worden ist. Die
Zweckidee wird so zu einer Selbsttäuschung des Verstandes über ein mechani¬
sches Produkt. Aber als ob nichts gesagt worden wäre, wird die Zweckidee
mit der größten Unbefangenheit als natürliches Produkt der Erkenntniß des
mechanischen Zusammenhanges als Krone des Ganzen zugelassen, z. B. von
Häckel. Dieser bewußtlosen Vermischung des mechanischen Zusammenhanges
und der Zweckidee aus dem Boden der Kultur stellt sich zur Seite eine
phantastische Einführung der Zweckidee in den mechanischen Zusammenhang
der Natur. Das älteste Beispiel dieser Vermischung ist die stoische Philosophie,
der sich der Geist des Alterthums ergab, als er den Gedankengang der großen
Sokratiker Plato und Aristoteles nicht mehr zu erreichen vermochte. Heute,
wo der deutsche Geist die Gedanken Kant's und seiner großen Nachfolger
einstweilen nicht mehr zu erreichen vermag, möchte er das Geistige, soweit er
ihm nicht zu entsagen vermag, erfahren. So fängt denn an die Philo¬
sophie des Franzosen Comte, eine moderne Parallele zur stoischen Ver¬
mischung des Empirischen und Geistigen immer mehr Anhänger in Deutsch,
land zu gewinnen. Allemal wenn der deutsche Geist nur noch die Kraft zur
Mittelmäßigkeit hat, wird er zum Affen des Auslandes. Eine mittelmäßige
Originalität bringt Deutschland nicht hervor oder sie wird als einheimisches
Produkt nicht zur Geltung gelassen. Die Deutschen vermögen nur originell
zu sein, wenn sie groß sind. Das ist eine vorzügliche, aber auch eine ge¬
fährliche Eigenthümlichkeit. Zur Zeit sind wir originell in der Politik.
Wie lange werden wir es zu bleiben vermögen, wenn unsere Weltauffassung
die Fesseln ausländischer Mittelmäßigkeit trägt? Es ist unglaublich, was für
schlechte Bücher des Auslandes jetzt bet uns bewundert werden.

Kehren wir zu unserm Verfasser zurück, um von ihm Abschied zu nehmen.
Er wird seitdem vielleicht die schmerzliche Entdeckung gemacht haben, wie


ständige Lehre Kant's, aber es sind ihre beiden Hauptresultate. Das Wichtigste,
was Hegel der Lehre Kant's hinzufügte, war das Verständniß der Entfaltung
der Zweckidee oder das Verständniß des Kulturprozesses als eines gesetzmäßigen
Verlaufes, nicht im Sinne der Naturgesetzmäßigkeit, sondern einer höhern
geistigen Gesetzmäßigkeit.

Die heutige Generation, obwohl sie sich anscheinend sehr viel mit Kant
beschäftigt, hat nicht mehr die Kraft, in seiner geistigen Luft zu athmen.
Sie ist völlig in den Dogmatismus zurückgefallen, der den Weltzusammen¬
hang zu erfahren glaubt und in demselben Athem erklärt, daß man nur
Einzelnes und Widersprechendes erfahren kann. Für die einzige erfahrene
Gesetzmäßigkeit wird die mechanische Causalität erklärt, obwohl auch diese
in Wahrheit niemals Produkt der Erfahrung sein kann, die Zweckidee wird
eliminirt nicht nur aus der Natur, sondern auch aus der geistigen Welt
nachdem das geistige Leben zur Naturerscheinung erklärt worden ist. Die
Zweckidee wird so zu einer Selbsttäuschung des Verstandes über ein mechani¬
sches Produkt. Aber als ob nichts gesagt worden wäre, wird die Zweckidee
mit der größten Unbefangenheit als natürliches Produkt der Erkenntniß des
mechanischen Zusammenhanges als Krone des Ganzen zugelassen, z. B. von
Häckel. Dieser bewußtlosen Vermischung des mechanischen Zusammenhanges
und der Zweckidee aus dem Boden der Kultur stellt sich zur Seite eine
phantastische Einführung der Zweckidee in den mechanischen Zusammenhang
der Natur. Das älteste Beispiel dieser Vermischung ist die stoische Philosophie,
der sich der Geist des Alterthums ergab, als er den Gedankengang der großen
Sokratiker Plato und Aristoteles nicht mehr zu erreichen vermochte. Heute,
wo der deutsche Geist die Gedanken Kant's und seiner großen Nachfolger
einstweilen nicht mehr zu erreichen vermag, möchte er das Geistige, soweit er
ihm nicht zu entsagen vermag, erfahren. So fängt denn an die Philo¬
sophie des Franzosen Comte, eine moderne Parallele zur stoischen Ver¬
mischung des Empirischen und Geistigen immer mehr Anhänger in Deutsch,
land zu gewinnen. Allemal wenn der deutsche Geist nur noch die Kraft zur
Mittelmäßigkeit hat, wird er zum Affen des Auslandes. Eine mittelmäßige
Originalität bringt Deutschland nicht hervor oder sie wird als einheimisches
Produkt nicht zur Geltung gelassen. Die Deutschen vermögen nur originell
zu sein, wenn sie groß sind. Das ist eine vorzügliche, aber auch eine ge¬
fährliche Eigenthümlichkeit. Zur Zeit sind wir originell in der Politik.
Wie lange werden wir es zu bleiben vermögen, wenn unsere Weltauffassung
die Fesseln ausländischer Mittelmäßigkeit trägt? Es ist unglaublich, was für
schlechte Bücher des Auslandes jetzt bet uns bewundert werden.

Kehren wir zu unserm Verfasser zurück, um von ihm Abschied zu nehmen.
Er wird seitdem vielleicht die schmerzliche Entdeckung gemacht haben, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/442>, abgerufen am 19.05.2024.