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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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lebhafte Bedürfniß, ein "Wagnerianer" zu werden, und da sich in Italien
dazu nur wenig Gelegenheit bot, so machte er sich eines Tages auf die Socken
und pilgerte nach Deutschland, hörte in Weimar den "Holländer", den
"Lohengrin", den "Tannhäuser" und die "Meistersinger", und da er nicht
als ganz frisches italienisches El, sondern schon ein wenig angebrütet ge¬
kommen war, so vollzog sich der ersehnte Geburtsact mit der erfreulichsten
Schnelligkeit; das Wagnerhähnchen schlüpfte aus und gackerte sofort vor
Vergnügen ein halbes Dutzend Feuilletons in die "Perseveranza", und wenn
ihm auch die Eierschalen noch bedenklich am Leibe hingen, so war doch kein
Zweifel, daß in Kurzem ein gewaltiger Kampfhahn in in^oren ^VaZlleri
Aloriam aus ihm werden würde. Dies große Ereigniß geschah 1870.

Wie wird der7"Meister" sich gefreut haben, wenn er gesehen, um welch'
verständnißvolles Glied die Schaar seiner Jünger wieder gewachsen war!
Und ein verständnißvoller Jünger ist Herr Filippo Dr. Ftlippi, das muß der
Neid ihm lassen. Wie könnte es auch anders sein, da er für die Bedeutung
eines Kunstwerkes einen untrüglichen Gradmesser am eigenen Leibe mit sich
herumträgt? "Das Drama, die Worte, die Situation", so schreibt er vom
"Lohengrin", "sind derart, daß Einem alle vom Autor hervorgerufenen Em¬
pfindungen des Schreckens, des Mitgefühls, der religiösen Begeisterung, der
Leidenschaft mit jenem schauerlichen Gefühl überkommen, das man gemeiniglich
"Gänsehaut" nennt, und welches meines Wissens noch Niemand vorsätzlich
empfunden hat". Da habt ihr's, ihr ungläubiges, profanes Volk! Die
Gänsehaut ist es, auf die alles ankommt. Wenn die Gänsehaut sich einstellt,
so ist die Echtheit und Größe des Kunstwerkes über jeden Zweifel erhaben.
Aber auch an umfassender musikwissenschaftlicher Kenntniß fehlt es Herrn
Filippo Dr. Filippi nicht; die einzige Lücke in seiner musikalischen Bildung
war eben die, daß er noch nicht in das Mysterium der Zukunftsmusik ein-
geweiht war, und diese Lücke ist ja nun Gott sei Dank auch ausgefüllt.
Herr Filippo Dr. Filippi weiß z. B. sehr wohl darüber Bescheid, daß
Beethoven's 9. Symphonie "das Lied an die Freunde von Schiller enthält",
und zur Würdigung Wagner's zieht er die schlagendsten Parallelen aus dem
Bereiche der Opernmusik. "Ohne Wagner und Lohengrin", schreibt er, "hätten
wir vielleicht noch keinen Gounot" (ach, wie schade wäre das!) und an andrer
Stelle: "Der erste melodische Satz in D aur (im Liebesduett im Lohengrin)
ist köstlich, man könnte fast sagen Gounodisch, wenn Wagner ihn nicht vor
Gounot geschrieben hätte", und bald darauf: "Die Ouvertüre des Tannhäuser
ist die schönste, die Wagner componirt hat, und kann sich den wenigen,
wirklich berühmten Ouvertüren (Wilhelm Tell, Zampa, Struensee und allen
Weber'schen) würdig zur Seite stellen". Beschämt nicht Herr Filippo öl-.
Filippi hierdurch seine Kenntnisse die ganze musikalische Welt Deutschlands?


lebhafte Bedürfniß, ein „Wagnerianer" zu werden, und da sich in Italien
dazu nur wenig Gelegenheit bot, so machte er sich eines Tages auf die Socken
und pilgerte nach Deutschland, hörte in Weimar den „Holländer", den
„Lohengrin", den „Tannhäuser" und die „Meistersinger", und da er nicht
als ganz frisches italienisches El, sondern schon ein wenig angebrütet ge¬
kommen war, so vollzog sich der ersehnte Geburtsact mit der erfreulichsten
Schnelligkeit; das Wagnerhähnchen schlüpfte aus und gackerte sofort vor
Vergnügen ein halbes Dutzend Feuilletons in die „Perseveranza", und wenn
ihm auch die Eierschalen noch bedenklich am Leibe hingen, so war doch kein
Zweifel, daß in Kurzem ein gewaltiger Kampfhahn in in^oren ^VaZlleri
Aloriam aus ihm werden würde. Dies große Ereigniß geschah 1870.

Wie wird der7„Meister" sich gefreut haben, wenn er gesehen, um welch'
verständnißvolles Glied die Schaar seiner Jünger wieder gewachsen war!
Und ein verständnißvoller Jünger ist Herr Filippo Dr. Ftlippi, das muß der
Neid ihm lassen. Wie könnte es auch anders sein, da er für die Bedeutung
eines Kunstwerkes einen untrüglichen Gradmesser am eigenen Leibe mit sich
herumträgt? „Das Drama, die Worte, die Situation", so schreibt er vom
„Lohengrin", „sind derart, daß Einem alle vom Autor hervorgerufenen Em¬
pfindungen des Schreckens, des Mitgefühls, der religiösen Begeisterung, der
Leidenschaft mit jenem schauerlichen Gefühl überkommen, das man gemeiniglich
„Gänsehaut" nennt, und welches meines Wissens noch Niemand vorsätzlich
empfunden hat". Da habt ihr's, ihr ungläubiges, profanes Volk! Die
Gänsehaut ist es, auf die alles ankommt. Wenn die Gänsehaut sich einstellt,
so ist die Echtheit und Größe des Kunstwerkes über jeden Zweifel erhaben.
Aber auch an umfassender musikwissenschaftlicher Kenntniß fehlt es Herrn
Filippo Dr. Filippi nicht; die einzige Lücke in seiner musikalischen Bildung
war eben die, daß er noch nicht in das Mysterium der Zukunftsmusik ein-
geweiht war, und diese Lücke ist ja nun Gott sei Dank auch ausgefüllt.
Herr Filippo Dr. Filippi weiß z. B. sehr wohl darüber Bescheid, daß
Beethoven's 9. Symphonie „das Lied an die Freunde von Schiller enthält",
und zur Würdigung Wagner's zieht er die schlagendsten Parallelen aus dem
Bereiche der Opernmusik. „Ohne Wagner und Lohengrin", schreibt er, „hätten
wir vielleicht noch keinen Gounot" (ach, wie schade wäre das!) und an andrer
Stelle: „Der erste melodische Satz in D aur (im Liebesduett im Lohengrin)
ist köstlich, man könnte fast sagen Gounodisch, wenn Wagner ihn nicht vor
Gounot geschrieben hätte", und bald darauf: „Die Ouvertüre des Tannhäuser
ist die schönste, die Wagner componirt hat, und kann sich den wenigen,
wirklich berühmten Ouvertüren (Wilhelm Tell, Zampa, Struensee und allen
Weber'schen) würdig zur Seite stellen". Beschämt nicht Herr Filippo öl-.
Filippi hierdurch seine Kenntnisse die ganze musikalische Welt Deutschlands?


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[0524] lebhafte Bedürfniß, ein „Wagnerianer" zu werden, und da sich in Italien dazu nur wenig Gelegenheit bot, so machte er sich eines Tages auf die Socken und pilgerte nach Deutschland, hörte in Weimar den „Holländer", den „Lohengrin", den „Tannhäuser" und die „Meistersinger", und da er nicht als ganz frisches italienisches El, sondern schon ein wenig angebrütet ge¬ kommen war, so vollzog sich der ersehnte Geburtsact mit der erfreulichsten Schnelligkeit; das Wagnerhähnchen schlüpfte aus und gackerte sofort vor Vergnügen ein halbes Dutzend Feuilletons in die „Perseveranza", und wenn ihm auch die Eierschalen noch bedenklich am Leibe hingen, so war doch kein Zweifel, daß in Kurzem ein gewaltiger Kampfhahn in in^oren ^VaZlleri Aloriam aus ihm werden würde. Dies große Ereigniß geschah 1870. Wie wird der7„Meister" sich gefreut haben, wenn er gesehen, um welch' verständnißvolles Glied die Schaar seiner Jünger wieder gewachsen war! Und ein verständnißvoller Jünger ist Herr Filippo Dr. Ftlippi, das muß der Neid ihm lassen. Wie könnte es auch anders sein, da er für die Bedeutung eines Kunstwerkes einen untrüglichen Gradmesser am eigenen Leibe mit sich herumträgt? „Das Drama, die Worte, die Situation", so schreibt er vom „Lohengrin", „sind derart, daß Einem alle vom Autor hervorgerufenen Em¬ pfindungen des Schreckens, des Mitgefühls, der religiösen Begeisterung, der Leidenschaft mit jenem schauerlichen Gefühl überkommen, das man gemeiniglich „Gänsehaut" nennt, und welches meines Wissens noch Niemand vorsätzlich empfunden hat". Da habt ihr's, ihr ungläubiges, profanes Volk! Die Gänsehaut ist es, auf die alles ankommt. Wenn die Gänsehaut sich einstellt, so ist die Echtheit und Größe des Kunstwerkes über jeden Zweifel erhaben. Aber auch an umfassender musikwissenschaftlicher Kenntniß fehlt es Herrn Filippo Dr. Filippi nicht; die einzige Lücke in seiner musikalischen Bildung war eben die, daß er noch nicht in das Mysterium der Zukunftsmusik ein- geweiht war, und diese Lücke ist ja nun Gott sei Dank auch ausgefüllt. Herr Filippo Dr. Filippi weiß z. B. sehr wohl darüber Bescheid, daß Beethoven's 9. Symphonie „das Lied an die Freunde von Schiller enthält", und zur Würdigung Wagner's zieht er die schlagendsten Parallelen aus dem Bereiche der Opernmusik. „Ohne Wagner und Lohengrin", schreibt er, „hätten wir vielleicht noch keinen Gounot" (ach, wie schade wäre das!) und an andrer Stelle: „Der erste melodische Satz in D aur (im Liebesduett im Lohengrin) ist köstlich, man könnte fast sagen Gounodisch, wenn Wagner ihn nicht vor Gounot geschrieben hätte", und bald darauf: „Die Ouvertüre des Tannhäuser ist die schönste, die Wagner componirt hat, und kann sich den wenigen, wirklich berühmten Ouvertüren (Wilhelm Tell, Zampa, Struensee und allen Weber'schen) würdig zur Seite stellen". Beschämt nicht Herr Filippo öl-. Filippi hierdurch seine Kenntnisse die ganze musikalische Welt Deutschlands?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/524>, abgerufen am 04.05.2024.