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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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ihnen ergehen würde. Solche erdichtete Gedanken waren es, die Tschudi den
Waldstätten in den Mund zu legen die politische und historische Frechheit
hatte. Die Folgen dieser Sophistik ließen nicht auf sich warten. Schon
sieben Jahre nach dem Tode des Chronisten, im Jahre 1879 erschien zu
Basel das Urner Tellenspiel in neuer Auflage und trug jetzt, trotz der in der
damaligen Schweiz schon scharf gehandhabten Büchereensur, auf dem Titelblatte
das herausfordernde Motto:


"Tyrannen und ein Hund, der tobt,
Wer die erschlägt, der wird gelobt."

Tell war von nun an der obrigkeitlich autoristrte Tyrannenschlächter,
und in diesem seinem Amtsgeschäfte ein Verbrechen zu sehen, galt jetzt selber
schon als eins. Knieend und mit dem Strick um den Hals mußte der Zu¬
widerredende Abbitte thun."

Ueber die zweite Hälfte des Rochholz'schen Buches, die sich vorzüglich
mit Geßler beschäftigt, müssen wir uns kurz fassen. Geßler ist eine geschicht¬
liche Persönlichkeit, aber freilich eine ganz und gar andere als die, welche uns
die Tellssage vorführt. Im Jahre 1314 erkaufen Johannes Geßler und
dessen Söhne Gotteshausgüter, welche der Luzerner Stiftsalmosenei zins¬
pflichtig sind. Diese Höfe, Brüggtal und Bergiswil, sind Eigenthum des
Luzerner Leodegarstiftes und liegen, der erste innerhalb des Luzerner Pfarr¬
kreises in der Richtung gegen das Dorf Ebikon, der zweite im Bezirke des
Hofes zu Küßnach, wo er Sonderrechte besaß. Den Eigenthümer dieser Höfe,
den Vater Johannes Geßler, kennt man urkundlich seit dem 13. Januar
1309. Er ist ein unfreier Bauer aus aargauisch Meienberg. nimmt aus der
Hand des Habsburger Adels Zinsgüter im Eigenamte und im Freiamte in
Pacht, und kauft sie von Frohndienst und Vogtssteuer los, kommt als Pferde¬
händler mit Herzog Leopold dem Aelteren in Verkehr, leiht demselben hundert
Pfund Pfennige, erhält statt deren Rückzahlung den Titel eines herzoglichen
Küchenmeisters und stirbt als solcher 1313. Sein ältester Sohn Heinrich
vermehrt das väterliche Erbe, wird Ritter, hält sich vorübergehend am Hofe
zu Wien aus und vertritt da die Ansprüche der Stadt Luzern. Dieß ist jener
Geßler, aus dessen Namen die schweizerischen Chronisten ein Mittel zu fort¬
gesetzter Geschichtsfälschung gemacht haben. "War dieser beurkundete ritter¬
liche Diener der Herzöge von Oesterreich dem Pfeile Teils zum Opfer gefallen,
so schien damit der urkundlich nicht nachweisbare Tell thatsächlich erwiesen.
Daß beide, Schütze und Erschossner, nur die beiden unentbehrlichen Hälften
einer und derselben Sagencomposition waren, ließ die arglose Vorzeit sich
noch nicht träumen, dieß begann erst dem vorigen Jahrhundert klar zu werden.
Noch mangelten die Beweismittel. Diese sind uns erst durch Eutych


ihnen ergehen würde. Solche erdichtete Gedanken waren es, die Tschudi den
Waldstätten in den Mund zu legen die politische und historische Frechheit
hatte. Die Folgen dieser Sophistik ließen nicht auf sich warten. Schon
sieben Jahre nach dem Tode des Chronisten, im Jahre 1879 erschien zu
Basel das Urner Tellenspiel in neuer Auflage und trug jetzt, trotz der in der
damaligen Schweiz schon scharf gehandhabten Büchereensur, auf dem Titelblatte
das herausfordernde Motto:


„Tyrannen und ein Hund, der tobt,
Wer die erschlägt, der wird gelobt."

Tell war von nun an der obrigkeitlich autoristrte Tyrannenschlächter,
und in diesem seinem Amtsgeschäfte ein Verbrechen zu sehen, galt jetzt selber
schon als eins. Knieend und mit dem Strick um den Hals mußte der Zu¬
widerredende Abbitte thun."

Ueber die zweite Hälfte des Rochholz'schen Buches, die sich vorzüglich
mit Geßler beschäftigt, müssen wir uns kurz fassen. Geßler ist eine geschicht¬
liche Persönlichkeit, aber freilich eine ganz und gar andere als die, welche uns
die Tellssage vorführt. Im Jahre 1314 erkaufen Johannes Geßler und
dessen Söhne Gotteshausgüter, welche der Luzerner Stiftsalmosenei zins¬
pflichtig sind. Diese Höfe, Brüggtal und Bergiswil, sind Eigenthum des
Luzerner Leodegarstiftes und liegen, der erste innerhalb des Luzerner Pfarr¬
kreises in der Richtung gegen das Dorf Ebikon, der zweite im Bezirke des
Hofes zu Küßnach, wo er Sonderrechte besaß. Den Eigenthümer dieser Höfe,
den Vater Johannes Geßler, kennt man urkundlich seit dem 13. Januar
1309. Er ist ein unfreier Bauer aus aargauisch Meienberg. nimmt aus der
Hand des Habsburger Adels Zinsgüter im Eigenamte und im Freiamte in
Pacht, und kauft sie von Frohndienst und Vogtssteuer los, kommt als Pferde¬
händler mit Herzog Leopold dem Aelteren in Verkehr, leiht demselben hundert
Pfund Pfennige, erhält statt deren Rückzahlung den Titel eines herzoglichen
Küchenmeisters und stirbt als solcher 1313. Sein ältester Sohn Heinrich
vermehrt das väterliche Erbe, wird Ritter, hält sich vorübergehend am Hofe
zu Wien aus und vertritt da die Ansprüche der Stadt Luzern. Dieß ist jener
Geßler, aus dessen Namen die schweizerischen Chronisten ein Mittel zu fort¬
gesetzter Geschichtsfälschung gemacht haben. „War dieser beurkundete ritter¬
liche Diener der Herzöge von Oesterreich dem Pfeile Teils zum Opfer gefallen,
so schien damit der urkundlich nicht nachweisbare Tell thatsächlich erwiesen.
Daß beide, Schütze und Erschossner, nur die beiden unentbehrlichen Hälften
einer und derselben Sagencomposition waren, ließ die arglose Vorzeit sich
noch nicht träumen, dieß begann erst dem vorigen Jahrhundert klar zu werden.
Noch mangelten die Beweismittel. Diese sind uns erst durch Eutych


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[0146] ihnen ergehen würde. Solche erdichtete Gedanken waren es, die Tschudi den Waldstätten in den Mund zu legen die politische und historische Frechheit hatte. Die Folgen dieser Sophistik ließen nicht auf sich warten. Schon sieben Jahre nach dem Tode des Chronisten, im Jahre 1879 erschien zu Basel das Urner Tellenspiel in neuer Auflage und trug jetzt, trotz der in der damaligen Schweiz schon scharf gehandhabten Büchereensur, auf dem Titelblatte das herausfordernde Motto: „Tyrannen und ein Hund, der tobt, Wer die erschlägt, der wird gelobt." Tell war von nun an der obrigkeitlich autoristrte Tyrannenschlächter, und in diesem seinem Amtsgeschäfte ein Verbrechen zu sehen, galt jetzt selber schon als eins. Knieend und mit dem Strick um den Hals mußte der Zu¬ widerredende Abbitte thun." Ueber die zweite Hälfte des Rochholz'schen Buches, die sich vorzüglich mit Geßler beschäftigt, müssen wir uns kurz fassen. Geßler ist eine geschicht¬ liche Persönlichkeit, aber freilich eine ganz und gar andere als die, welche uns die Tellssage vorführt. Im Jahre 1314 erkaufen Johannes Geßler und dessen Söhne Gotteshausgüter, welche der Luzerner Stiftsalmosenei zins¬ pflichtig sind. Diese Höfe, Brüggtal und Bergiswil, sind Eigenthum des Luzerner Leodegarstiftes und liegen, der erste innerhalb des Luzerner Pfarr¬ kreises in der Richtung gegen das Dorf Ebikon, der zweite im Bezirke des Hofes zu Küßnach, wo er Sonderrechte besaß. Den Eigenthümer dieser Höfe, den Vater Johannes Geßler, kennt man urkundlich seit dem 13. Januar 1309. Er ist ein unfreier Bauer aus aargauisch Meienberg. nimmt aus der Hand des Habsburger Adels Zinsgüter im Eigenamte und im Freiamte in Pacht, und kauft sie von Frohndienst und Vogtssteuer los, kommt als Pferde¬ händler mit Herzog Leopold dem Aelteren in Verkehr, leiht demselben hundert Pfund Pfennige, erhält statt deren Rückzahlung den Titel eines herzoglichen Küchenmeisters und stirbt als solcher 1313. Sein ältester Sohn Heinrich vermehrt das väterliche Erbe, wird Ritter, hält sich vorübergehend am Hofe zu Wien aus und vertritt da die Ansprüche der Stadt Luzern. Dieß ist jener Geßler, aus dessen Namen die schweizerischen Chronisten ein Mittel zu fort¬ gesetzter Geschichtsfälschung gemacht haben. „War dieser beurkundete ritter¬ liche Diener der Herzöge von Oesterreich dem Pfeile Teils zum Opfer gefallen, so schien damit der urkundlich nicht nachweisbare Tell thatsächlich erwiesen. Daß beide, Schütze und Erschossner, nur die beiden unentbehrlichen Hälften einer und derselben Sagencomposition waren, ließ die arglose Vorzeit sich noch nicht träumen, dieß begann erst dem vorigen Jahrhundert klar zu werden. Noch mangelten die Beweismittel. Diese sind uns erst durch Eutych

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/146>, abgerufen am 29.05.2024.