Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Kind, wie die heilige Schrift sagt. Ich häufe Sünde und Trübsal für uns
beide auf. Er steckt voll Satanspossen, aber guter Gott, er ist meiner lieben
verstorbenen Schwester Kind -- der arme Kerl -- und ich habe nicht das
Herz ihn durchzuwichsen. Jedesmal, wo ich ihn laufen lasse, schlägt mir das
Gewissen wer weiß wie sehr, und jedesmal, wo ich ihn haue, will mir fast
mein altes Herz brechen. Er wird diesen Nachmittag hinter die Schule laufen,
Und ich werde ihn morgen zur Arbeit anhalten müssen, damit er seine Strafe
kriegt. Es ist fürchterlich hart, ihn Sonnabends arbeiten zu lassen, wo alle
Jungens freie Zeit haben, aber ich muß meine Pflicht wenigstens einigermaßen
gegen ihn thun, sonst richte ich das Kind zu Grunde."

Tom läuft wirklich hinter die Schule und wird wirklich bestraft: er muß,
während seine Freunde spielen, seiner Tante einen Zaun anstreichen, weiß
sich aber -auf köstliche Weise zu helfen, indem er den sich um ihn sammelnden
Bekannten seine Arbeit als Ehre und Kunst darstellt und sie auf diese Weise
bewegt, ihm das Anstreichen nicht nur abzunehmen, sondern auch noch dafür
zu bezahlen. Das Resultat ist, daß der Zaun rasch fertig wird und Tom
die dadurch ersparte Zeit zum Vergnügen verwenden kann, und daß er, der
am Morgen noch arm wie eine Kirchenmaus gewesen ist, sich buchstäblich in
Reichthum wälzt, indem er jetzt außer andern Schätzen zwölf Marmorkugeln,
ein paar Kaulquappen, ein Stück blaues Flaschenglas zum Durchguken. einen
Theil von einer Maultrommel, einen Zinnsoldaten, sechs Feuerschwärmer,
eine messingne Thürklinke und einen Schlüssel, der nichts ausschließt, sein
nennen darf.

Allerliebst ist in den ferneren Kapiteln die Scene in der Sonntagsschule,
wo Tom, der in Wahrheit ein fauler und nur schwer lernender Schüler ist,
die Prämienbibel davon trägt, die derjenige bekommt, welcher nachweisen kann,
daß er eine gewisse Anzahl Bibelsprüche auswendig kann. Er hat sich mit
jenen Schätzen von den Kameraden die Beweise gekauft und erntet ein un¬
verdientes Lob, dem aber eine schlimme Beschämung folgt, indem er, von
einem angesehnen Gaste bei der Feierlichkeit nach den Namen der beiden
ersten Jünger Jesu gefragt, nach einigem Zögern antwortet: "David und
Goliath." Ebenfalls sehr drollig ist der unmittelbar darauf folgende Schwank, wo
der gottlose Junge den Pfarrer in einer ergreifenden Schilderung des jüngsten
Gerichts unterbricht, indem er einen Kampf zwischen einem von ihm mitge¬
brachten Hirschkäfer und einem Pudel veranlaßt, der sich in die Kirche einge-
schlichen hat. Höchst komisch sind die Abschnitte, welche uns Tom in der
Schule zeigen, ferner die Geschichte seiner bald glücklichen, bald unglücklichen
Liebe zu seiner Mitschülerin Becky Thatcher, dann seine Begegnung mit Huckel-
berry Finn, dem Paria des Städtchens, einem vagirenden Bettelknaben, mit


Kind, wie die heilige Schrift sagt. Ich häufe Sünde und Trübsal für uns
beide auf. Er steckt voll Satanspossen, aber guter Gott, er ist meiner lieben
verstorbenen Schwester Kind — der arme Kerl — und ich habe nicht das
Herz ihn durchzuwichsen. Jedesmal, wo ich ihn laufen lasse, schlägt mir das
Gewissen wer weiß wie sehr, und jedesmal, wo ich ihn haue, will mir fast
mein altes Herz brechen. Er wird diesen Nachmittag hinter die Schule laufen,
Und ich werde ihn morgen zur Arbeit anhalten müssen, damit er seine Strafe
kriegt. Es ist fürchterlich hart, ihn Sonnabends arbeiten zu lassen, wo alle
Jungens freie Zeit haben, aber ich muß meine Pflicht wenigstens einigermaßen
gegen ihn thun, sonst richte ich das Kind zu Grunde."

Tom läuft wirklich hinter die Schule und wird wirklich bestraft: er muß,
während seine Freunde spielen, seiner Tante einen Zaun anstreichen, weiß
sich aber -auf köstliche Weise zu helfen, indem er den sich um ihn sammelnden
Bekannten seine Arbeit als Ehre und Kunst darstellt und sie auf diese Weise
bewegt, ihm das Anstreichen nicht nur abzunehmen, sondern auch noch dafür
zu bezahlen. Das Resultat ist, daß der Zaun rasch fertig wird und Tom
die dadurch ersparte Zeit zum Vergnügen verwenden kann, und daß er, der
am Morgen noch arm wie eine Kirchenmaus gewesen ist, sich buchstäblich in
Reichthum wälzt, indem er jetzt außer andern Schätzen zwölf Marmorkugeln,
ein paar Kaulquappen, ein Stück blaues Flaschenglas zum Durchguken. einen
Theil von einer Maultrommel, einen Zinnsoldaten, sechs Feuerschwärmer,
eine messingne Thürklinke und einen Schlüssel, der nichts ausschließt, sein
nennen darf.

Allerliebst ist in den ferneren Kapiteln die Scene in der Sonntagsschule,
wo Tom, der in Wahrheit ein fauler und nur schwer lernender Schüler ist,
die Prämienbibel davon trägt, die derjenige bekommt, welcher nachweisen kann,
daß er eine gewisse Anzahl Bibelsprüche auswendig kann. Er hat sich mit
jenen Schätzen von den Kameraden die Beweise gekauft und erntet ein un¬
verdientes Lob, dem aber eine schlimme Beschämung folgt, indem er, von
einem angesehnen Gaste bei der Feierlichkeit nach den Namen der beiden
ersten Jünger Jesu gefragt, nach einigem Zögern antwortet: „David und
Goliath." Ebenfalls sehr drollig ist der unmittelbar darauf folgende Schwank, wo
der gottlose Junge den Pfarrer in einer ergreifenden Schilderung des jüngsten
Gerichts unterbricht, indem er einen Kampf zwischen einem von ihm mitge¬
brachten Hirschkäfer und einem Pudel veranlaßt, der sich in die Kirche einge-
schlichen hat. Höchst komisch sind die Abschnitte, welche uns Tom in der
Schule zeigen, ferner die Geschichte seiner bald glücklichen, bald unglücklichen
Liebe zu seiner Mitschülerin Becky Thatcher, dann seine Begegnung mit Huckel-
berry Finn, dem Paria des Städtchens, einem vagirenden Bettelknaben, mit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136862"/>
          <p xml:id="ID_616" prev="#ID_615"> Kind, wie die heilige Schrift sagt. Ich häufe Sünde und Trübsal für uns<lb/>
beide auf. Er steckt voll Satanspossen, aber guter Gott, er ist meiner lieben<lb/>
verstorbenen Schwester Kind &#x2014; der arme Kerl &#x2014; und ich habe nicht das<lb/>
Herz ihn durchzuwichsen. Jedesmal, wo ich ihn laufen lasse, schlägt mir das<lb/>
Gewissen wer weiß wie sehr, und jedesmal, wo ich ihn haue, will mir fast<lb/>
mein altes Herz brechen. Er wird diesen Nachmittag hinter die Schule laufen,<lb/>
Und ich werde ihn morgen zur Arbeit anhalten müssen, damit er seine Strafe<lb/>
kriegt. Es ist fürchterlich hart, ihn Sonnabends arbeiten zu lassen, wo alle<lb/>
Jungens freie Zeit haben, aber ich muß meine Pflicht wenigstens einigermaßen<lb/>
gegen ihn thun, sonst richte ich das Kind zu Grunde."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_617"> Tom läuft wirklich hinter die Schule und wird wirklich bestraft: er muß,<lb/>
während seine Freunde spielen, seiner Tante einen Zaun anstreichen, weiß<lb/>
sich aber -auf köstliche Weise zu helfen, indem er den sich um ihn sammelnden<lb/>
Bekannten seine Arbeit als Ehre und Kunst darstellt und sie auf diese Weise<lb/>
bewegt, ihm das Anstreichen nicht nur abzunehmen, sondern auch noch dafür<lb/>
zu bezahlen. Das Resultat ist, daß der Zaun rasch fertig wird und Tom<lb/>
die dadurch ersparte Zeit zum Vergnügen verwenden kann, und daß er, der<lb/>
am Morgen noch arm wie eine Kirchenmaus gewesen ist, sich buchstäblich in<lb/>
Reichthum wälzt, indem er jetzt außer andern Schätzen zwölf Marmorkugeln,<lb/>
ein paar Kaulquappen, ein Stück blaues Flaschenglas zum Durchguken. einen<lb/>
Theil von einer Maultrommel, einen Zinnsoldaten, sechs Feuerschwärmer,<lb/>
eine messingne Thürklinke und einen Schlüssel, der nichts ausschließt, sein<lb/>
nennen darf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_618" next="#ID_619"> Allerliebst ist in den ferneren Kapiteln die Scene in der Sonntagsschule,<lb/>
wo Tom, der in Wahrheit ein fauler und nur schwer lernender Schüler ist,<lb/>
die Prämienbibel davon trägt, die derjenige bekommt, welcher nachweisen kann,<lb/>
daß er eine gewisse Anzahl Bibelsprüche auswendig kann. Er hat sich mit<lb/>
jenen Schätzen von den Kameraden die Beweise gekauft und erntet ein un¬<lb/>
verdientes Lob, dem aber eine schlimme Beschämung folgt, indem er, von<lb/>
einem angesehnen Gaste bei der Feierlichkeit nach den Namen der beiden<lb/>
ersten Jünger Jesu gefragt, nach einigem Zögern antwortet: &#x201E;David und<lb/>
Goliath." Ebenfalls sehr drollig ist der unmittelbar darauf folgende Schwank, wo<lb/>
der gottlose Junge den Pfarrer in einer ergreifenden Schilderung des jüngsten<lb/>
Gerichts unterbricht, indem er einen Kampf zwischen einem von ihm mitge¬<lb/>
brachten Hirschkäfer und einem Pudel veranlaßt, der sich in die Kirche einge-<lb/>
schlichen hat. Höchst komisch sind die Abschnitte, welche uns Tom in der<lb/>
Schule zeigen, ferner die Geschichte seiner bald glücklichen, bald unglücklichen<lb/>
Liebe zu seiner Mitschülerin Becky Thatcher, dann seine Begegnung mit Huckel-<lb/>
berry Finn, dem Paria des Städtchens, einem vagirenden Bettelknaben, mit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0223] Kind, wie die heilige Schrift sagt. Ich häufe Sünde und Trübsal für uns beide auf. Er steckt voll Satanspossen, aber guter Gott, er ist meiner lieben verstorbenen Schwester Kind — der arme Kerl — und ich habe nicht das Herz ihn durchzuwichsen. Jedesmal, wo ich ihn laufen lasse, schlägt mir das Gewissen wer weiß wie sehr, und jedesmal, wo ich ihn haue, will mir fast mein altes Herz brechen. Er wird diesen Nachmittag hinter die Schule laufen, Und ich werde ihn morgen zur Arbeit anhalten müssen, damit er seine Strafe kriegt. Es ist fürchterlich hart, ihn Sonnabends arbeiten zu lassen, wo alle Jungens freie Zeit haben, aber ich muß meine Pflicht wenigstens einigermaßen gegen ihn thun, sonst richte ich das Kind zu Grunde." Tom läuft wirklich hinter die Schule und wird wirklich bestraft: er muß, während seine Freunde spielen, seiner Tante einen Zaun anstreichen, weiß sich aber -auf köstliche Weise zu helfen, indem er den sich um ihn sammelnden Bekannten seine Arbeit als Ehre und Kunst darstellt und sie auf diese Weise bewegt, ihm das Anstreichen nicht nur abzunehmen, sondern auch noch dafür zu bezahlen. Das Resultat ist, daß der Zaun rasch fertig wird und Tom die dadurch ersparte Zeit zum Vergnügen verwenden kann, und daß er, der am Morgen noch arm wie eine Kirchenmaus gewesen ist, sich buchstäblich in Reichthum wälzt, indem er jetzt außer andern Schätzen zwölf Marmorkugeln, ein paar Kaulquappen, ein Stück blaues Flaschenglas zum Durchguken. einen Theil von einer Maultrommel, einen Zinnsoldaten, sechs Feuerschwärmer, eine messingne Thürklinke und einen Schlüssel, der nichts ausschließt, sein nennen darf. Allerliebst ist in den ferneren Kapiteln die Scene in der Sonntagsschule, wo Tom, der in Wahrheit ein fauler und nur schwer lernender Schüler ist, die Prämienbibel davon trägt, die derjenige bekommt, welcher nachweisen kann, daß er eine gewisse Anzahl Bibelsprüche auswendig kann. Er hat sich mit jenen Schätzen von den Kameraden die Beweise gekauft und erntet ein un¬ verdientes Lob, dem aber eine schlimme Beschämung folgt, indem er, von einem angesehnen Gaste bei der Feierlichkeit nach den Namen der beiden ersten Jünger Jesu gefragt, nach einigem Zögern antwortet: „David und Goliath." Ebenfalls sehr drollig ist der unmittelbar darauf folgende Schwank, wo der gottlose Junge den Pfarrer in einer ergreifenden Schilderung des jüngsten Gerichts unterbricht, indem er einen Kampf zwischen einem von ihm mitge¬ brachten Hirschkäfer und einem Pudel veranlaßt, der sich in die Kirche einge- schlichen hat. Höchst komisch sind die Abschnitte, welche uns Tom in der Schule zeigen, ferner die Geschichte seiner bald glücklichen, bald unglücklichen Liebe zu seiner Mitschülerin Becky Thatcher, dann seine Begegnung mit Huckel- berry Finn, dem Paria des Städtchens, einem vagirenden Bettelknaben, mit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/223
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/223>, abgerufen am 04.06.2024.