Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

In den Mythologien des Morgenlandes tritt uns die Schlange vor-
wiegend als Gestalt des Bösen entgegen. So in der persischen Zend-Religion,
wo Ahriman sich in ihr verkörpert, so in der biblischen Erzählung vom
Sündenfalle, und so in der Apokalypse, wogegen sie bei den alten Aegyptern
das Symbol des Gottes Kneph, des Sperbers der segensreichen Nilfluth und
des rinnenden Wassers im Allgemeinen, war und bei der christlichen Secte
der Ophiten als doppelsinniges Wesen sowohl verehrt als gefürchtet wurde.

Bei den Griechen erscheint die Schlange fast durchgehends als heiliges und
heilbringendes Thier, und ähnlich wird sie von deren Verwandten in Italien
angesehen. Sie dient als Symbol von Quellbächen und Flüssen. Sie ist
ein Attribut des Heilgottes Asklepios. Sie findet sich in der jüngeren For-n
des Hermesstabes. Sie wurde bei der orgiastischen Dionysosfeier um die
Arme und in die Haare geflochten. Mystische Beziehungen wurden durch
als in die Erde verschwindendes und aus ihr wieder emporkommendes und
als immer sich verjüngendes, auf die Wiederbelebung und Unsterblichkeit der
Menschen hindeutendes Thier versinnbildet. Nach Hesiod zog sich Kychreus,
der mythische Held von Salamis, eine Schlange auf, die später, von der Insel
vertrieben, von der Demeter aufgenommen wurde und fortan zu deren
Dienerinnen gehörte. Gewöhnlich bilden Schlangen den Vorspann am Wage"
des Triptolemos. Thebanische Sagen erzählten, daß Kadmos, in eine Schlange
verwandelt, zu den Encheleern in Jllyrien ausgewandert sei. Kekrops und
Erichthonios, die erdgebornen Urmenschen Attikas, waren nach alter UM'
lieferung ganz oder zur untern Hälfte Schlangen gewesen. Athene gab dein
letzteren, als sie ihn den Töchtern des Agraulos zur Erziehung überbrachte-
ein Schlangenpaar "als Lebenshüter" mit, eine Sage, der noch zu den Zeiten
des Euripides der Gebrauch ätherischer Mütter entsprach, ihren Neugebornen
kleine goldne Schlangen als Amulete anzuhängen. Häufig diente zu sin"'
bildlicher Vergegenwärtigung des Schutzgeistes eines Menschen oder einer
Familie das Zeichen der Schlange. Nicht selten werden von der griechische"
Sage Schlangen in Beziehung zu mythischen Propheten gebracht. Der Seher
Jarnos wird als Kind auf einer Veilchenflur von zwei Schlangen ernähr^
Der Argiver Polyidos, der den in einem Honigsasse ertrunkenen Sohn des
Königs Minos vermöge seiner Sehergabe wiedergefunden hat, soll denselben
wiederbeleben und wird, als er sich dessen weigert, mit dem Todten in dieselbe
Gruft verschlossen. Hier tödtet er eine Schlange, die an das Kind herankriecht-
Darauf kommt eine zweite Schlange mit einem Kraute, durch welches sie ^e
erschlagene wieder lebendig macht, und Polyidos bedient sich dann desselben
Mittels, um den Knaben er's Leben zurückzurufen. Melampus verdankt se'^
Prophetengabe Schlangen, die er vom Tode gerettet hat, und die ihm dafür
die Ohren aufgeleckt haben, so daß er die Sprache der Vögel versteht, eine


In den Mythologien des Morgenlandes tritt uns die Schlange vor-
wiegend als Gestalt des Bösen entgegen. So in der persischen Zend-Religion,
wo Ahriman sich in ihr verkörpert, so in der biblischen Erzählung vom
Sündenfalle, und so in der Apokalypse, wogegen sie bei den alten Aegyptern
das Symbol des Gottes Kneph, des Sperbers der segensreichen Nilfluth und
des rinnenden Wassers im Allgemeinen, war und bei der christlichen Secte
der Ophiten als doppelsinniges Wesen sowohl verehrt als gefürchtet wurde.

Bei den Griechen erscheint die Schlange fast durchgehends als heiliges und
heilbringendes Thier, und ähnlich wird sie von deren Verwandten in Italien
angesehen. Sie dient als Symbol von Quellbächen und Flüssen. Sie ist
ein Attribut des Heilgottes Asklepios. Sie findet sich in der jüngeren For-n
des Hermesstabes. Sie wurde bei der orgiastischen Dionysosfeier um die
Arme und in die Haare geflochten. Mystische Beziehungen wurden durch
als in die Erde verschwindendes und aus ihr wieder emporkommendes und
als immer sich verjüngendes, auf die Wiederbelebung und Unsterblichkeit der
Menschen hindeutendes Thier versinnbildet. Nach Hesiod zog sich Kychreus,
der mythische Held von Salamis, eine Schlange auf, die später, von der Insel
vertrieben, von der Demeter aufgenommen wurde und fortan zu deren
Dienerinnen gehörte. Gewöhnlich bilden Schlangen den Vorspann am Wage«
des Triptolemos. Thebanische Sagen erzählten, daß Kadmos, in eine Schlange
verwandelt, zu den Encheleern in Jllyrien ausgewandert sei. Kekrops und
Erichthonios, die erdgebornen Urmenschen Attikas, waren nach alter UM'
lieferung ganz oder zur untern Hälfte Schlangen gewesen. Athene gab dein
letzteren, als sie ihn den Töchtern des Agraulos zur Erziehung überbrachte-
ein Schlangenpaar „als Lebenshüter" mit, eine Sage, der noch zu den Zeiten
des Euripides der Gebrauch ätherischer Mütter entsprach, ihren Neugebornen
kleine goldne Schlangen als Amulete anzuhängen. Häufig diente zu sin"'
bildlicher Vergegenwärtigung des Schutzgeistes eines Menschen oder einer
Familie das Zeichen der Schlange. Nicht selten werden von der griechische"
Sage Schlangen in Beziehung zu mythischen Propheten gebracht. Der Seher
Jarnos wird als Kind auf einer Veilchenflur von zwei Schlangen ernähr^
Der Argiver Polyidos, der den in einem Honigsasse ertrunkenen Sohn des
Königs Minos vermöge seiner Sehergabe wiedergefunden hat, soll denselben
wiederbeleben und wird, als er sich dessen weigert, mit dem Todten in dieselbe
Gruft verschlossen. Hier tödtet er eine Schlange, die an das Kind herankriecht-
Darauf kommt eine zweite Schlange mit einem Kraute, durch welches sie ^e
erschlagene wieder lebendig macht, und Polyidos bedient sich dann desselben
Mittels, um den Knaben er's Leben zurückzurufen. Melampus verdankt se'^
Prophetengabe Schlangen, die er vom Tode gerettet hat, und die ihm dafür
die Ohren aufgeleckt haben, so daß er die Sprache der Vögel versteht, eine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0286" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136925"/>
          <p xml:id="ID_882"> In den Mythologien des Morgenlandes tritt uns die Schlange vor-<lb/>
wiegend als Gestalt des Bösen entgegen. So in der persischen Zend-Religion,<lb/>
wo Ahriman sich in ihr verkörpert, so in der biblischen Erzählung vom<lb/>
Sündenfalle, und so in der Apokalypse, wogegen sie bei den alten Aegyptern<lb/>
das Symbol des Gottes Kneph, des Sperbers der segensreichen Nilfluth und<lb/>
des rinnenden Wassers im Allgemeinen, war und bei der christlichen Secte<lb/>
der Ophiten als doppelsinniges Wesen sowohl verehrt als gefürchtet wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_883" next="#ID_884"> Bei den Griechen erscheint die Schlange fast durchgehends als heiliges und<lb/>
heilbringendes Thier, und ähnlich wird sie von deren Verwandten in Italien<lb/>
angesehen.  Sie dient als Symbol von Quellbächen und Flüssen.  Sie ist<lb/>
ein Attribut des Heilgottes Asklepios. Sie findet sich in der jüngeren For-n<lb/>
des Hermesstabes.  Sie wurde bei der orgiastischen Dionysosfeier um die<lb/>
Arme und in die Haare geflochten.  Mystische Beziehungen wurden durch<lb/>
als in die Erde verschwindendes und aus ihr wieder emporkommendes und<lb/>
als immer sich verjüngendes, auf die Wiederbelebung und Unsterblichkeit der<lb/>
Menschen hindeutendes Thier versinnbildet.  Nach Hesiod zog sich Kychreus,<lb/>
der mythische Held von Salamis, eine Schlange auf, die später, von der Insel<lb/>
vertrieben, von der Demeter aufgenommen wurde und fortan zu deren<lb/>
Dienerinnen gehörte. Gewöhnlich bilden Schlangen den Vorspann am Wage«<lb/>
des Triptolemos. Thebanische Sagen erzählten, daß Kadmos, in eine Schlange<lb/>
verwandelt, zu den Encheleern in Jllyrien ausgewandert sei.  Kekrops und<lb/>
Erichthonios, die erdgebornen Urmenschen Attikas, waren nach alter UM'<lb/>
lieferung ganz oder zur untern Hälfte Schlangen gewesen.  Athene gab dein<lb/>
letzteren, als sie ihn den Töchtern des Agraulos zur Erziehung überbrachte-<lb/>
ein Schlangenpaar &#x201E;als Lebenshüter" mit, eine Sage, der noch zu den Zeiten<lb/>
des Euripides der Gebrauch ätherischer Mütter entsprach, ihren Neugebornen<lb/>
kleine goldne Schlangen als Amulete anzuhängen.  Häufig diente zu sin"'<lb/>
bildlicher Vergegenwärtigung des Schutzgeistes eines Menschen oder einer<lb/>
Familie das Zeichen der Schlange.  Nicht selten werden von der griechische"<lb/>
Sage Schlangen in Beziehung zu mythischen Propheten gebracht. Der Seher<lb/>
Jarnos wird als Kind auf einer Veilchenflur von zwei Schlangen ernähr^<lb/>
Der Argiver Polyidos, der den in einem Honigsasse ertrunkenen Sohn des<lb/>
Königs Minos vermöge seiner Sehergabe wiedergefunden hat, soll denselben<lb/>
wiederbeleben und wird, als er sich dessen weigert, mit dem Todten in dieselbe<lb/>
Gruft verschlossen. Hier tödtet er eine Schlange, die an das Kind herankriecht-<lb/>
Darauf kommt eine zweite Schlange mit einem Kraute, durch welches sie ^e<lb/>
erschlagene wieder lebendig macht, und Polyidos bedient sich dann desselben<lb/>
Mittels, um den Knaben er's Leben zurückzurufen. Melampus verdankt se'^<lb/>
Prophetengabe Schlangen, die er vom Tode gerettet hat, und die ihm dafür<lb/>
die Ohren aufgeleckt haben, so daß er die Sprache der Vögel versteht, eine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0286] In den Mythologien des Morgenlandes tritt uns die Schlange vor- wiegend als Gestalt des Bösen entgegen. So in der persischen Zend-Religion, wo Ahriman sich in ihr verkörpert, so in der biblischen Erzählung vom Sündenfalle, und so in der Apokalypse, wogegen sie bei den alten Aegyptern das Symbol des Gottes Kneph, des Sperbers der segensreichen Nilfluth und des rinnenden Wassers im Allgemeinen, war und bei der christlichen Secte der Ophiten als doppelsinniges Wesen sowohl verehrt als gefürchtet wurde. Bei den Griechen erscheint die Schlange fast durchgehends als heiliges und heilbringendes Thier, und ähnlich wird sie von deren Verwandten in Italien angesehen. Sie dient als Symbol von Quellbächen und Flüssen. Sie ist ein Attribut des Heilgottes Asklepios. Sie findet sich in der jüngeren For-n des Hermesstabes. Sie wurde bei der orgiastischen Dionysosfeier um die Arme und in die Haare geflochten. Mystische Beziehungen wurden durch als in die Erde verschwindendes und aus ihr wieder emporkommendes und als immer sich verjüngendes, auf die Wiederbelebung und Unsterblichkeit der Menschen hindeutendes Thier versinnbildet. Nach Hesiod zog sich Kychreus, der mythische Held von Salamis, eine Schlange auf, die später, von der Insel vertrieben, von der Demeter aufgenommen wurde und fortan zu deren Dienerinnen gehörte. Gewöhnlich bilden Schlangen den Vorspann am Wage« des Triptolemos. Thebanische Sagen erzählten, daß Kadmos, in eine Schlange verwandelt, zu den Encheleern in Jllyrien ausgewandert sei. Kekrops und Erichthonios, die erdgebornen Urmenschen Attikas, waren nach alter UM' lieferung ganz oder zur untern Hälfte Schlangen gewesen. Athene gab dein letzteren, als sie ihn den Töchtern des Agraulos zur Erziehung überbrachte- ein Schlangenpaar „als Lebenshüter" mit, eine Sage, der noch zu den Zeiten des Euripides der Gebrauch ätherischer Mütter entsprach, ihren Neugebornen kleine goldne Schlangen als Amulete anzuhängen. Häufig diente zu sin"' bildlicher Vergegenwärtigung des Schutzgeistes eines Menschen oder einer Familie das Zeichen der Schlange. Nicht selten werden von der griechische" Sage Schlangen in Beziehung zu mythischen Propheten gebracht. Der Seher Jarnos wird als Kind auf einer Veilchenflur von zwei Schlangen ernähr^ Der Argiver Polyidos, der den in einem Honigsasse ertrunkenen Sohn des Königs Minos vermöge seiner Sehergabe wiedergefunden hat, soll denselben wiederbeleben und wird, als er sich dessen weigert, mit dem Todten in dieselbe Gruft verschlossen. Hier tödtet er eine Schlange, die an das Kind herankriecht- Darauf kommt eine zweite Schlange mit einem Kraute, durch welches sie ^e erschlagene wieder lebendig macht, und Polyidos bedient sich dann desselben Mittels, um den Knaben er's Leben zurückzurufen. Melampus verdankt se'^ Prophetengabe Schlangen, die er vom Tode gerettet hat, und die ihm dafür die Ohren aufgeleckt haben, so daß er die Sprache der Vögel versteht, eine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/286
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/286>, abgerufen am 16.05.2024.