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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Volksvertretung mit allen Rechten und Pflichten einer solchen entwickeln zu
sehen. Ein guter Anfang dazu ist mit dem kürzlich dem Bundesrathe vor¬
gelegten und hier, -- wie seiner Zeit berichtet, -- mit großer Freude und
Einmüthigkeit aufgenommenen Entwurf, betr. die Landesgesetzgebung Elsaß-
Lothringens gemacht. Zu bedauern wäre es jedenfalls, wenn, wie neuerdings
verlautete, dieser Entwurf, der trotz entgegengesetzter Anführungen eines
Theiles der nationalliberalen Presse uns eine weitere Etappe in der ver¬
fassungsmäßigen Fortentwicklung des Reichslandes zu bilden scheint, dem
Reichstage in seiner gegenwärtigen Session noch nicht vorgelegt würde.

Was die hier und da signalisirte Bewegung rücksichtlich der bevorstehenden
Reichs tags wählen in Elsaß-Lothringen angeht, so tritt dieselbe im
Schooße der Bevölkerung nur sehr sporadisch, oder eigentlich zur Zeit noch
gar nicht hervor. Nur die größere Provinzial-Presse, an der Spitze wieder
das "Elsässer Journal" und der Mühlhauser "Industrie!" haben hin und
wieder Propaganda dafür gemacht und sogar versucht, ein einheitliches
Programm aufzustellen. Das ist aber, wie es scheint, gescheitert. Das erstere
Blatt wollte wo möglich alle frühern Parteien, Imperialisten, Orleanisten,
Republikaner u. f. w. unter einen Hut bringen. Der "Industrie!" ist damit
aber nicht einverstanden, weist vielmehr jede nähere Verbindung mit den
"Männern des Verbrechens", will heißen, den alten Anhängern des Kaiser¬
tums -- von sich ab.

Die Folge wird wohl die sein, daß der demnächstigen Wahl jede einheitliche
Leitung fehlen, und die Partei, welche im Finstern schleicht und unter der
Hand alles klug abzumachen weiß, wieder, wie früher, den Löwenantheil
davon tragen wird. Ueberhaupt ist bezüglich der Partei-Verhältnisse im
Reichslande noch alles im Werden begriffen, noch nichts eonsolidirr. Von
einer eigentlichen festen Partei-Organisation nach altdeutschem Muster
kann gar nicht die Rede sein, und wird so lange nicht die Rede sein können,
als man noch in noliticis die landläufige Unterscheidung zwischen Eingewan¬
derten und Einheimischen, "Schwoben" und Elsässern, mit mehr oder weniger
Fug zu machen beliebt.

Die Zeitungs-Nachrichten von einer Jmportation social-demokratischer,
klerikaler oder selbst agrarischer Reichs-Candidaten von jenseits des Rheines
sind wohl in das Gebiet der "Wählenden" zu verweisen. Herr Windthorst
-- Candtdat in Schlettstadt, Bürger Gebet in Straßburg ist zwar eine sehr
geistreiche Combination, namentlich wenn die letztere Candidatur von der
Pariser "Tribüne" gelobt und befürwortet wird, darum aber praktisch nicht viel
mehr werth, als wenn die beiden Herren sich auch in Sibirien für den
Russischen Reichstag in fus als Candidaten Präsentiren würden. Jedenfalls
kann man dem Organ des altelsässischen Liberalismus nicht Unrecht geben,


Volksvertretung mit allen Rechten und Pflichten einer solchen entwickeln zu
sehen. Ein guter Anfang dazu ist mit dem kürzlich dem Bundesrathe vor¬
gelegten und hier, — wie seiner Zeit berichtet, — mit großer Freude und
Einmüthigkeit aufgenommenen Entwurf, betr. die Landesgesetzgebung Elsaß-
Lothringens gemacht. Zu bedauern wäre es jedenfalls, wenn, wie neuerdings
verlautete, dieser Entwurf, der trotz entgegengesetzter Anführungen eines
Theiles der nationalliberalen Presse uns eine weitere Etappe in der ver¬
fassungsmäßigen Fortentwicklung des Reichslandes zu bilden scheint, dem
Reichstage in seiner gegenwärtigen Session noch nicht vorgelegt würde.

Was die hier und da signalisirte Bewegung rücksichtlich der bevorstehenden
Reichs tags wählen in Elsaß-Lothringen angeht, so tritt dieselbe im
Schooße der Bevölkerung nur sehr sporadisch, oder eigentlich zur Zeit noch
gar nicht hervor. Nur die größere Provinzial-Presse, an der Spitze wieder
das „Elsässer Journal" und der Mühlhauser „Industrie!" haben hin und
wieder Propaganda dafür gemacht und sogar versucht, ein einheitliches
Programm aufzustellen. Das ist aber, wie es scheint, gescheitert. Das erstere
Blatt wollte wo möglich alle frühern Parteien, Imperialisten, Orleanisten,
Republikaner u. f. w. unter einen Hut bringen. Der „Industrie!" ist damit
aber nicht einverstanden, weist vielmehr jede nähere Verbindung mit den
„Männern des Verbrechens", will heißen, den alten Anhängern des Kaiser¬
tums — von sich ab.

Die Folge wird wohl die sein, daß der demnächstigen Wahl jede einheitliche
Leitung fehlen, und die Partei, welche im Finstern schleicht und unter der
Hand alles klug abzumachen weiß, wieder, wie früher, den Löwenantheil
davon tragen wird. Ueberhaupt ist bezüglich der Partei-Verhältnisse im
Reichslande noch alles im Werden begriffen, noch nichts eonsolidirr. Von
einer eigentlichen festen Partei-Organisation nach altdeutschem Muster
kann gar nicht die Rede sein, und wird so lange nicht die Rede sein können,
als man noch in noliticis die landläufige Unterscheidung zwischen Eingewan¬
derten und Einheimischen, „Schwoben" und Elsässern, mit mehr oder weniger
Fug zu machen beliebt.

Die Zeitungs-Nachrichten von einer Jmportation social-demokratischer,
klerikaler oder selbst agrarischer Reichs-Candidaten von jenseits des Rheines
sind wohl in das Gebiet der „Wählenden" zu verweisen. Herr Windthorst
— Candtdat in Schlettstadt, Bürger Gebet in Straßburg ist zwar eine sehr
geistreiche Combination, namentlich wenn die letztere Candidatur von der
Pariser „Tribüne" gelobt und befürwortet wird, darum aber praktisch nicht viel
mehr werth, als wenn die beiden Herren sich auch in Sibirien für den
Russischen Reichstag in fus als Candidaten Präsentiren würden. Jedenfalls
kann man dem Organ des altelsässischen Liberalismus nicht Unrecht geben,


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[0350] Volksvertretung mit allen Rechten und Pflichten einer solchen entwickeln zu sehen. Ein guter Anfang dazu ist mit dem kürzlich dem Bundesrathe vor¬ gelegten und hier, — wie seiner Zeit berichtet, — mit großer Freude und Einmüthigkeit aufgenommenen Entwurf, betr. die Landesgesetzgebung Elsaß- Lothringens gemacht. Zu bedauern wäre es jedenfalls, wenn, wie neuerdings verlautete, dieser Entwurf, der trotz entgegengesetzter Anführungen eines Theiles der nationalliberalen Presse uns eine weitere Etappe in der ver¬ fassungsmäßigen Fortentwicklung des Reichslandes zu bilden scheint, dem Reichstage in seiner gegenwärtigen Session noch nicht vorgelegt würde. Was die hier und da signalisirte Bewegung rücksichtlich der bevorstehenden Reichs tags wählen in Elsaß-Lothringen angeht, so tritt dieselbe im Schooße der Bevölkerung nur sehr sporadisch, oder eigentlich zur Zeit noch gar nicht hervor. Nur die größere Provinzial-Presse, an der Spitze wieder das „Elsässer Journal" und der Mühlhauser „Industrie!" haben hin und wieder Propaganda dafür gemacht und sogar versucht, ein einheitliches Programm aufzustellen. Das ist aber, wie es scheint, gescheitert. Das erstere Blatt wollte wo möglich alle frühern Parteien, Imperialisten, Orleanisten, Republikaner u. f. w. unter einen Hut bringen. Der „Industrie!" ist damit aber nicht einverstanden, weist vielmehr jede nähere Verbindung mit den „Männern des Verbrechens", will heißen, den alten Anhängern des Kaiser¬ tums — von sich ab. Die Folge wird wohl die sein, daß der demnächstigen Wahl jede einheitliche Leitung fehlen, und die Partei, welche im Finstern schleicht und unter der Hand alles klug abzumachen weiß, wieder, wie früher, den Löwenantheil davon tragen wird. Ueberhaupt ist bezüglich der Partei-Verhältnisse im Reichslande noch alles im Werden begriffen, noch nichts eonsolidirr. Von einer eigentlichen festen Partei-Organisation nach altdeutschem Muster kann gar nicht die Rede sein, und wird so lange nicht die Rede sein können, als man noch in noliticis die landläufige Unterscheidung zwischen Eingewan¬ derten und Einheimischen, „Schwoben" und Elsässern, mit mehr oder weniger Fug zu machen beliebt. Die Zeitungs-Nachrichten von einer Jmportation social-demokratischer, klerikaler oder selbst agrarischer Reichs-Candidaten von jenseits des Rheines sind wohl in das Gebiet der „Wählenden" zu verweisen. Herr Windthorst — Candtdat in Schlettstadt, Bürger Gebet in Straßburg ist zwar eine sehr geistreiche Combination, namentlich wenn die letztere Candidatur von der Pariser „Tribüne" gelobt und befürwortet wird, darum aber praktisch nicht viel mehr werth, als wenn die beiden Herren sich auch in Sibirien für den Russischen Reichstag in fus als Candidaten Präsentiren würden. Jedenfalls kann man dem Organ des altelsässischen Liberalismus nicht Unrecht geben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/350>, abgerufen am 16.05.2024.