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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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im gereiften Alter sich äußert, ist hier vereinigt. Es ist ein großer Trost
und Stolz, daß solche Bücher geschrieben werden konnten als ein treues Ab¬
bild auch unsrer Tage, in derselben Zeit, da Alles klagte über die Verwilde¬
rung der Sitten, über den Verfall des treuen deutschen Arbeilsfleißes. des
Handels und der Gewerbe, in derselben Zeit, da die Partei der Volkshetzer
allen Glauben, alle Ordnung und Gesittung der alten Gesellschaft auszu-
rotten versuchte und nicht am letzten die Familie, die Ehe, die Ehrenfestigkeit
des deutschen Hauses sich zum Ziel ihrer Brandfackeln erkoren hatte.

Es hieße sehr gering denken von unsern Lesern, wollten wir ihnen noch
einmal den Inhalt der früheren Reichenau'schen Schriften vorführen, deren
beste Stellen in aller Munde leben, mit deren Kinderbildern zum ersten Mal
Oskar Pietsch seinen Namen berühmt machte, die vorAllemdassinnigste
Weihnachtsgeschenk bilden, welches Liebesleute und Eheleute einander,
welches Eltern den herangewachsenen Kindern schenken können. Welcher deutsche
Mann und welche deutsche Frau oder Jungfrau kennte sie nicht, jene unver¬
gleichlich wahren und in Scherz und Ernst so herzigen Bilder aus dem Kin¬
derleben, aus den "Knaben- und Mädchen"-Jahren, von "Auswärts und
Daheim", die "Liebesgeschichten", und "Am eigenen Heerde" ? Schon in dem
letzterwähnten Bändchen waren die Kinder, die wir vom "ersten Vierteljahr"
an in ihrer Entwickelung verfolgt haben, wieder Eltern geworden. Nun liegt
uns der Band vor, dem kein andrer mehr folgen kann: der Band, der "die
Alten"*) vorführt, die Alten, die "große Kinder" und Enkel haben, oder
denen das Geschick dieses höchste Glück irdischen Daseins versagt oder wieder
genommen hat, und welchen -- um mit Jacob Grimm in seinem herr¬
lichen Vortrag über das Alter zu reden -- der einsame Spaziergang alle
Freuden der Jugend ersetzt.

Wer die früheren Bändchen las, wußte "auf einen Ritt", was er ge°
lesen. Sehr vieles blieb wörtlich haften. "Die Alten" werden, je öfter ge¬
lesen, um so tiefer wirken -- ganz so wie im Leben, im Verkehr mit den
Alten. Wie wunderlich und kraus entströmen oft die Erinnerungen ver¬
gangener Tage bejahrten Leuten. Wie viel Geduld meint die Jugend auf-
bieten zu müssen, um neben Oftgehörtem wenig Neues aus greisem Munde
zu vernehmen. Und dennoch, vermöchte sie zu missen jene von Mund zu Mund
fortlebenden Erinnerungen der Vorzeit, die kein Buch uns mit der Anschau¬
lichkeit und Treue schildern kann, wie der überlebende Genosse jener Tage?

So ist es auch nicht ein Tadel, sondern ein Lob für dieses Buch, daß
es weitere Blicke aufthut, mehr Personen, Schicksale, Wandlungen und Er¬
fahrungen vorführt, als irgend ein früheres Bändchen. Das liegt im Stoff.
Die Aufgabe, die der Verfasser sich stellte, spricht er selbst aus in dem kurzen



") Leipzig, F. W. Grunow, 1876.

im gereiften Alter sich äußert, ist hier vereinigt. Es ist ein großer Trost
und Stolz, daß solche Bücher geschrieben werden konnten als ein treues Ab¬
bild auch unsrer Tage, in derselben Zeit, da Alles klagte über die Verwilde¬
rung der Sitten, über den Verfall des treuen deutschen Arbeilsfleißes. des
Handels und der Gewerbe, in derselben Zeit, da die Partei der Volkshetzer
allen Glauben, alle Ordnung und Gesittung der alten Gesellschaft auszu-
rotten versuchte und nicht am letzten die Familie, die Ehe, die Ehrenfestigkeit
des deutschen Hauses sich zum Ziel ihrer Brandfackeln erkoren hatte.

Es hieße sehr gering denken von unsern Lesern, wollten wir ihnen noch
einmal den Inhalt der früheren Reichenau'schen Schriften vorführen, deren
beste Stellen in aller Munde leben, mit deren Kinderbildern zum ersten Mal
Oskar Pietsch seinen Namen berühmt machte, die vorAllemdassinnigste
Weihnachtsgeschenk bilden, welches Liebesleute und Eheleute einander,
welches Eltern den herangewachsenen Kindern schenken können. Welcher deutsche
Mann und welche deutsche Frau oder Jungfrau kennte sie nicht, jene unver¬
gleichlich wahren und in Scherz und Ernst so herzigen Bilder aus dem Kin¬
derleben, aus den „Knaben- und Mädchen"-Jahren, von „Auswärts und
Daheim", die „Liebesgeschichten", und „Am eigenen Heerde" ? Schon in dem
letzterwähnten Bändchen waren die Kinder, die wir vom „ersten Vierteljahr"
an in ihrer Entwickelung verfolgt haben, wieder Eltern geworden. Nun liegt
uns der Band vor, dem kein andrer mehr folgen kann: der Band, der „die
Alten"*) vorführt, die Alten, die „große Kinder" und Enkel haben, oder
denen das Geschick dieses höchste Glück irdischen Daseins versagt oder wieder
genommen hat, und welchen — um mit Jacob Grimm in seinem herr¬
lichen Vortrag über das Alter zu reden — der einsame Spaziergang alle
Freuden der Jugend ersetzt.

Wer die früheren Bändchen las, wußte „auf einen Ritt", was er ge°
lesen. Sehr vieles blieb wörtlich haften. „Die Alten" werden, je öfter ge¬
lesen, um so tiefer wirken — ganz so wie im Leben, im Verkehr mit den
Alten. Wie wunderlich und kraus entströmen oft die Erinnerungen ver¬
gangener Tage bejahrten Leuten. Wie viel Geduld meint die Jugend auf-
bieten zu müssen, um neben Oftgehörtem wenig Neues aus greisem Munde
zu vernehmen. Und dennoch, vermöchte sie zu missen jene von Mund zu Mund
fortlebenden Erinnerungen der Vorzeit, die kein Buch uns mit der Anschau¬
lichkeit und Treue schildern kann, wie der überlebende Genosse jener Tage?

So ist es auch nicht ein Tadel, sondern ein Lob für dieses Buch, daß
es weitere Blicke aufthut, mehr Personen, Schicksale, Wandlungen und Er¬
fahrungen vorführt, als irgend ein früheres Bändchen. Das liegt im Stoff.
Die Aufgabe, die der Verfasser sich stellte, spricht er selbst aus in dem kurzen



") Leipzig, F. W. Grunow, 1876.
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[0423] im gereiften Alter sich äußert, ist hier vereinigt. Es ist ein großer Trost und Stolz, daß solche Bücher geschrieben werden konnten als ein treues Ab¬ bild auch unsrer Tage, in derselben Zeit, da Alles klagte über die Verwilde¬ rung der Sitten, über den Verfall des treuen deutschen Arbeilsfleißes. des Handels und der Gewerbe, in derselben Zeit, da die Partei der Volkshetzer allen Glauben, alle Ordnung und Gesittung der alten Gesellschaft auszu- rotten versuchte und nicht am letzten die Familie, die Ehe, die Ehrenfestigkeit des deutschen Hauses sich zum Ziel ihrer Brandfackeln erkoren hatte. Es hieße sehr gering denken von unsern Lesern, wollten wir ihnen noch einmal den Inhalt der früheren Reichenau'schen Schriften vorführen, deren beste Stellen in aller Munde leben, mit deren Kinderbildern zum ersten Mal Oskar Pietsch seinen Namen berühmt machte, die vorAllemdassinnigste Weihnachtsgeschenk bilden, welches Liebesleute und Eheleute einander, welches Eltern den herangewachsenen Kindern schenken können. Welcher deutsche Mann und welche deutsche Frau oder Jungfrau kennte sie nicht, jene unver¬ gleichlich wahren und in Scherz und Ernst so herzigen Bilder aus dem Kin¬ derleben, aus den „Knaben- und Mädchen"-Jahren, von „Auswärts und Daheim", die „Liebesgeschichten", und „Am eigenen Heerde" ? Schon in dem letzterwähnten Bändchen waren die Kinder, die wir vom „ersten Vierteljahr" an in ihrer Entwickelung verfolgt haben, wieder Eltern geworden. Nun liegt uns der Band vor, dem kein andrer mehr folgen kann: der Band, der „die Alten"*) vorführt, die Alten, die „große Kinder" und Enkel haben, oder denen das Geschick dieses höchste Glück irdischen Daseins versagt oder wieder genommen hat, und welchen — um mit Jacob Grimm in seinem herr¬ lichen Vortrag über das Alter zu reden — der einsame Spaziergang alle Freuden der Jugend ersetzt. Wer die früheren Bändchen las, wußte „auf einen Ritt", was er ge° lesen. Sehr vieles blieb wörtlich haften. „Die Alten" werden, je öfter ge¬ lesen, um so tiefer wirken — ganz so wie im Leben, im Verkehr mit den Alten. Wie wunderlich und kraus entströmen oft die Erinnerungen ver¬ gangener Tage bejahrten Leuten. Wie viel Geduld meint die Jugend auf- bieten zu müssen, um neben Oftgehörtem wenig Neues aus greisem Munde zu vernehmen. Und dennoch, vermöchte sie zu missen jene von Mund zu Mund fortlebenden Erinnerungen der Vorzeit, die kein Buch uns mit der Anschau¬ lichkeit und Treue schildern kann, wie der überlebende Genosse jener Tage? So ist es auch nicht ein Tadel, sondern ein Lob für dieses Buch, daß es weitere Blicke aufthut, mehr Personen, Schicksale, Wandlungen und Er¬ fahrungen vorführt, als irgend ein früheres Bändchen. Das liegt im Stoff. Die Aufgabe, die der Verfasser sich stellte, spricht er selbst aus in dem kurzen ") Leipzig, F. W. Grunow, 1876.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/423>, abgerufen am 15.05.2024.