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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Also wenn ein roher Mann seine Frau mißhandelt bis zur Lebensgefahr,
und der Arzt wird gerufen; oder wenn eine Giftmischerin ihrem Manne oder
ihrem Kinde Gift beibringt und der Arzt wird wiederum gerufen und solche
Dinge kommen zur Untersuchung, so darf der Arzt mit Bezug auf seine
Vertrauensstellung das Zeugniß verweigern! Zu solchem haarsträubenden
Widersinn führt die Schwäche eines großen Theils unserer Juristen, die gar
nicht mehr wissen, daß sie die Gesellschaft zu schützen haben und nicht alle
möglichen Jämmerlichkeiten des Privatlebens mit dem Mantel der Senti¬
mentalität zuzudecken. Indem man den Aerzten die Verweigerung des Zeug¬
nisses freistellen will, erreicht die Sache den Gipfel des Widersinns. Denn
nun ist die öffentliche Meinung in ihrem Recht, wenn sie aus jedem ver¬
weigerten Zeugniß auf ein Unrecht schließt, dessen Mitwisser und Mitschuldiger
der Arzt ist. In den Fällen aber, wo die Aerzte aus eigenem Willen
Zeugniß ablegen, wird ihnen dies wiederum verdacht und jeder einzelne Fall
streng kritisirt werden. Wenn endlich die Aerzte nicht zum Belastungszeugniß
gezwungen werden sollen, so können sie auch nicht zum Entlastungszeugniß
zugelassen werden. Was wäre das für eine Wirthschaft und für ein Gerichts¬
verfahren, wenn der Arzt bezeugen dürfte, daß er einen Mörder des Morgens
zur ärztlichen Untersuchung empfangen, und damit dem Mörder einen Stein
zum Aufbau eines Alibibeweises liefern dürfte, während derselbe Arzt nicht
verbunden wäre auszusagen, daß er demselben Mann Abends auf einer ent¬
fernten Station die Wunden verbunden, die ihm im mörderischen Handgemenge
zu Theil geworden. Es ließe sich noch vieles sagen über die criminalpolitische
Verwirrung unserer Gesetzgeber bei diesem und so manchem anderen Punkt.
Es sei jedoch die Charakteristik der Strafprozeßordnung auf den Zeitpunkt
der dritten Lesung des Gesetzes verspart.

Ich gehe zur Sitzung vom 6. Dezember über. Es ist schwer, heute noch
etwas über eine Rede zu sagen, deren Worte schon seit vier Tagen, wie man
wohl sagen kann, durch Europa dröhnen. Neben dem europäischen Ereigniß
politischer Erklärungen von der größten Tragweite steht das locale Ereigniß
-- der beispiellosen Niederlage eines fortschrittlichen Abgeordneten. Herr
E. Richter gab dem Reichskanzler zu politischen Erklärungen Anlaß dadurch,
daß er interpellirte, was der Reichskanzler den neuesten russischen Zoller¬
höhungen gegenüber zu thun gedenke. Einen solchen Anlaß geliefert zu haben,
ist ja ein gewisses Verdienst. Aber die Art, wie Herr Richter seine Jnter¬
pellation begründete, hat ihm nicht nur eine persönliche Niederlage zugezogen,
sie hat auf unsere parlamentarische Befähigung ein unrühmliches Licht vor
dem ganzen Ausland geworfen, welches bei dieser Gelegenheit schärfer als
sonst den palamentarischen Vorgang wahrzunehmen veranlaßt war. Was
soll das Ausland denken, wenn in einem Augenblick, wo alle Theile desselben


Also wenn ein roher Mann seine Frau mißhandelt bis zur Lebensgefahr,
und der Arzt wird gerufen; oder wenn eine Giftmischerin ihrem Manne oder
ihrem Kinde Gift beibringt und der Arzt wird wiederum gerufen und solche
Dinge kommen zur Untersuchung, so darf der Arzt mit Bezug auf seine
Vertrauensstellung das Zeugniß verweigern! Zu solchem haarsträubenden
Widersinn führt die Schwäche eines großen Theils unserer Juristen, die gar
nicht mehr wissen, daß sie die Gesellschaft zu schützen haben und nicht alle
möglichen Jämmerlichkeiten des Privatlebens mit dem Mantel der Senti¬
mentalität zuzudecken. Indem man den Aerzten die Verweigerung des Zeug¬
nisses freistellen will, erreicht die Sache den Gipfel des Widersinns. Denn
nun ist die öffentliche Meinung in ihrem Recht, wenn sie aus jedem ver¬
weigerten Zeugniß auf ein Unrecht schließt, dessen Mitwisser und Mitschuldiger
der Arzt ist. In den Fällen aber, wo die Aerzte aus eigenem Willen
Zeugniß ablegen, wird ihnen dies wiederum verdacht und jeder einzelne Fall
streng kritisirt werden. Wenn endlich die Aerzte nicht zum Belastungszeugniß
gezwungen werden sollen, so können sie auch nicht zum Entlastungszeugniß
zugelassen werden. Was wäre das für eine Wirthschaft und für ein Gerichts¬
verfahren, wenn der Arzt bezeugen dürfte, daß er einen Mörder des Morgens
zur ärztlichen Untersuchung empfangen, und damit dem Mörder einen Stein
zum Aufbau eines Alibibeweises liefern dürfte, während derselbe Arzt nicht
verbunden wäre auszusagen, daß er demselben Mann Abends auf einer ent¬
fernten Station die Wunden verbunden, die ihm im mörderischen Handgemenge
zu Theil geworden. Es ließe sich noch vieles sagen über die criminalpolitische
Verwirrung unserer Gesetzgeber bei diesem und so manchem anderen Punkt.
Es sei jedoch die Charakteristik der Strafprozeßordnung auf den Zeitpunkt
der dritten Lesung des Gesetzes verspart.

Ich gehe zur Sitzung vom 6. Dezember über. Es ist schwer, heute noch
etwas über eine Rede zu sagen, deren Worte schon seit vier Tagen, wie man
wohl sagen kann, durch Europa dröhnen. Neben dem europäischen Ereigniß
politischer Erklärungen von der größten Tragweite steht das locale Ereigniß
— der beispiellosen Niederlage eines fortschrittlichen Abgeordneten. Herr
E. Richter gab dem Reichskanzler zu politischen Erklärungen Anlaß dadurch,
daß er interpellirte, was der Reichskanzler den neuesten russischen Zoller¬
höhungen gegenüber zu thun gedenke. Einen solchen Anlaß geliefert zu haben,
ist ja ein gewisses Verdienst. Aber die Art, wie Herr Richter seine Jnter¬
pellation begründete, hat ihm nicht nur eine persönliche Niederlage zugezogen,
sie hat auf unsere parlamentarische Befähigung ein unrühmliches Licht vor
dem ganzen Ausland geworfen, welches bei dieser Gelegenheit schärfer als
sonst den palamentarischen Vorgang wahrzunehmen veranlaßt war. Was
soll das Ausland denken, wenn in einem Augenblick, wo alle Theile desselben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/476>, abgerufen am 16.05.2024.