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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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So heftig nun damals und noch später beide Gruppen der schweizerischen
Parteischriftsteller einander befehdeten, sind sie doch beiderseits einig über die
bald schwedische, bald cimbrische, bald nordsächsische oder friesische Abstammung
der Schweizer, und diese bleibt von da an der Knotenpunkt ihrer chronistischen
Erzählungen. Hielten sie nun selbst an dieser fabelhaften Abkunft aus dem
Norden fest, und stellten sie dieselbe in den Vordergrund der Volksgeschichte,
so mußten sie mit nicht geringerer Vorliebe auch nach der nordischen Helden¬
sage, wo sie sich schicklich darbot, greifen und auch diese in ihre Berichte ver¬
flechten. Darin liegt der augenfällige Grund, weshalb in der Tellsage die
Züge der skandinavischen Tokosage wiederkehren. Dieß ist ein so nothwendiges
Wechselverhältniß, daß es schon im vorigen Jahrhundert eingesehen und --
freilich erfolglos -- öffentlich ausgesprochen worden ist.

Warum aber die von Hemmerlin vertretene, mit mehr Gelehrsamkeit, als
sie sein Gegner besaß, "erfochtene Ansicht von der sächsischen Abstammung
der Schwyzer nicht durchdrang und die Fründ'sche das Feld behauptete? Ein¬
fach deshalb, weil Hemmerlin's Baterstadt in jenem Kriege unterlag, weil
das antihelvettsche Element besiegt war und Fründ's schwedisch-urhelvetische
Märchen nun um so lebendiger in den Glauben des Volkes, ja, wie Rochholz
an vielen Beispielen nachweist, in das Staatsrecht der Ländercantone über¬
gehen konnten.

Wie verhielt sich nun hierzu die spätere schweizerische Geschichtsforschung?
Größtentheils ging sie in den alten Geleisen fort. Doch steht der Wander¬
sage schon Stumpf (Mitte des sechzehnten Jahrhunderts) zweifelnd gegenüber,
wenn er sie "eine argwöhnische Historie, wo die Irrthümer nicht zu zählen",
nennt. Desgleichen schwankt Tschudi (um 1870). Entschiedeneren Urtheils
ist der gele!rde Baseler Anton Heinrich Pantaleon, der erste Schweizer,
welcher (um 1566) Saxos Tokosage zum Zwecke geschichtlicher Vergleichung
ins Deutsche übersetzt hat. Sehr deutlich endlich spricht Jselin in seinem
Lexikon (Basel, 1728) sein Mißtrauen in die Wahrheit der Sage von Tell aus,
wenn er sagt: "Wie viele neue Scribenten auch dieser Geschicht Meldung thun,
so kann man gleichwohl nicht mit Stillschweigen übergehen, daß erstlich solche in
keinem gar alten Geschichtsschreiber gefunden werde, und fürs andere, daß
Dlaus Magnus und aus dem noch andere eine ganz gleiche Begebenheit
von einem gewissen Tocho erzählen, die sich zur Zeit des dänischen Königs
Harald und also viel hundert Jahre, ehe noch die Schweitzer von österreichi¬
schen Landvögten gedränget wurden, solle ereignet haben und doch der vorer-
Sehlten Geschicht des Wilhelm Teilen ganz gleich ist, sodaß schier nicht zu
zweifeln, daß die eine Erzehlung aus der andern hergenommen sei."

Die Antwort der altgläubigen Schule faßt sich in folgenden Satz zu¬
sammen, den Johannes von Müller geerbt und auf die Seinigen weiter


So heftig nun damals und noch später beide Gruppen der schweizerischen
Parteischriftsteller einander befehdeten, sind sie doch beiderseits einig über die
bald schwedische, bald cimbrische, bald nordsächsische oder friesische Abstammung
der Schweizer, und diese bleibt von da an der Knotenpunkt ihrer chronistischen
Erzählungen. Hielten sie nun selbst an dieser fabelhaften Abkunft aus dem
Norden fest, und stellten sie dieselbe in den Vordergrund der Volksgeschichte,
so mußten sie mit nicht geringerer Vorliebe auch nach der nordischen Helden¬
sage, wo sie sich schicklich darbot, greifen und auch diese in ihre Berichte ver¬
flechten. Darin liegt der augenfällige Grund, weshalb in der Tellsage die
Züge der skandinavischen Tokosage wiederkehren. Dieß ist ein so nothwendiges
Wechselverhältniß, daß es schon im vorigen Jahrhundert eingesehen und —
freilich erfolglos — öffentlich ausgesprochen worden ist.

Warum aber die von Hemmerlin vertretene, mit mehr Gelehrsamkeit, als
sie sein Gegner besaß, »erfochtene Ansicht von der sächsischen Abstammung
der Schwyzer nicht durchdrang und die Fründ'sche das Feld behauptete? Ein¬
fach deshalb, weil Hemmerlin's Baterstadt in jenem Kriege unterlag, weil
das antihelvettsche Element besiegt war und Fründ's schwedisch-urhelvetische
Märchen nun um so lebendiger in den Glauben des Volkes, ja, wie Rochholz
an vielen Beispielen nachweist, in das Staatsrecht der Ländercantone über¬
gehen konnten.

Wie verhielt sich nun hierzu die spätere schweizerische Geschichtsforschung?
Größtentheils ging sie in den alten Geleisen fort. Doch steht der Wander¬
sage schon Stumpf (Mitte des sechzehnten Jahrhunderts) zweifelnd gegenüber,
wenn er sie „eine argwöhnische Historie, wo die Irrthümer nicht zu zählen",
nennt. Desgleichen schwankt Tschudi (um 1870). Entschiedeneren Urtheils
ist der gele!rde Baseler Anton Heinrich Pantaleon, der erste Schweizer,
welcher (um 1566) Saxos Tokosage zum Zwecke geschichtlicher Vergleichung
ins Deutsche übersetzt hat. Sehr deutlich endlich spricht Jselin in seinem
Lexikon (Basel, 1728) sein Mißtrauen in die Wahrheit der Sage von Tell aus,
wenn er sagt: „Wie viele neue Scribenten auch dieser Geschicht Meldung thun,
so kann man gleichwohl nicht mit Stillschweigen übergehen, daß erstlich solche in
keinem gar alten Geschichtsschreiber gefunden werde, und fürs andere, daß
Dlaus Magnus und aus dem noch andere eine ganz gleiche Begebenheit
von einem gewissen Tocho erzählen, die sich zur Zeit des dänischen Königs
Harald und also viel hundert Jahre, ehe noch die Schweitzer von österreichi¬
schen Landvögten gedränget wurden, solle ereignet haben und doch der vorer-
Sehlten Geschicht des Wilhelm Teilen ganz gleich ist, sodaß schier nicht zu
zweifeln, daß die eine Erzehlung aus der andern hergenommen sei."

Die Antwort der altgläubigen Schule faßt sich in folgenden Satz zu¬
sammen, den Johannes von Müller geerbt und auf die Seinigen weiter


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[0095] So heftig nun damals und noch später beide Gruppen der schweizerischen Parteischriftsteller einander befehdeten, sind sie doch beiderseits einig über die bald schwedische, bald cimbrische, bald nordsächsische oder friesische Abstammung der Schweizer, und diese bleibt von da an der Knotenpunkt ihrer chronistischen Erzählungen. Hielten sie nun selbst an dieser fabelhaften Abkunft aus dem Norden fest, und stellten sie dieselbe in den Vordergrund der Volksgeschichte, so mußten sie mit nicht geringerer Vorliebe auch nach der nordischen Helden¬ sage, wo sie sich schicklich darbot, greifen und auch diese in ihre Berichte ver¬ flechten. Darin liegt der augenfällige Grund, weshalb in der Tellsage die Züge der skandinavischen Tokosage wiederkehren. Dieß ist ein so nothwendiges Wechselverhältniß, daß es schon im vorigen Jahrhundert eingesehen und — freilich erfolglos — öffentlich ausgesprochen worden ist. Warum aber die von Hemmerlin vertretene, mit mehr Gelehrsamkeit, als sie sein Gegner besaß, »erfochtene Ansicht von der sächsischen Abstammung der Schwyzer nicht durchdrang und die Fründ'sche das Feld behauptete? Ein¬ fach deshalb, weil Hemmerlin's Baterstadt in jenem Kriege unterlag, weil das antihelvettsche Element besiegt war und Fründ's schwedisch-urhelvetische Märchen nun um so lebendiger in den Glauben des Volkes, ja, wie Rochholz an vielen Beispielen nachweist, in das Staatsrecht der Ländercantone über¬ gehen konnten. Wie verhielt sich nun hierzu die spätere schweizerische Geschichtsforschung? Größtentheils ging sie in den alten Geleisen fort. Doch steht der Wander¬ sage schon Stumpf (Mitte des sechzehnten Jahrhunderts) zweifelnd gegenüber, wenn er sie „eine argwöhnische Historie, wo die Irrthümer nicht zu zählen", nennt. Desgleichen schwankt Tschudi (um 1870). Entschiedeneren Urtheils ist der gele!rde Baseler Anton Heinrich Pantaleon, der erste Schweizer, welcher (um 1566) Saxos Tokosage zum Zwecke geschichtlicher Vergleichung ins Deutsche übersetzt hat. Sehr deutlich endlich spricht Jselin in seinem Lexikon (Basel, 1728) sein Mißtrauen in die Wahrheit der Sage von Tell aus, wenn er sagt: „Wie viele neue Scribenten auch dieser Geschicht Meldung thun, so kann man gleichwohl nicht mit Stillschweigen übergehen, daß erstlich solche in keinem gar alten Geschichtsschreiber gefunden werde, und fürs andere, daß Dlaus Magnus und aus dem noch andere eine ganz gleiche Begebenheit von einem gewissen Tocho erzählen, die sich zur Zeit des dänischen Königs Harald und also viel hundert Jahre, ehe noch die Schweitzer von österreichi¬ schen Landvögten gedränget wurden, solle ereignet haben und doch der vorer- Sehlten Geschicht des Wilhelm Teilen ganz gleich ist, sodaß schier nicht zu zweifeln, daß die eine Erzehlung aus der andern hergenommen sei." Die Antwort der altgläubigen Schule faßt sich in folgenden Satz zu¬ sammen, den Johannes von Müller geerbt und auf die Seinigen weiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/95>, abgerufen am 15.05.2024.