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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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auf seine soeben mitgetheilten Phantasten die folgende Zuschrift erhielt und
unter lebhafter Zustimmung entgegennahm: "Die besondere Frage von der Ein¬
wanderung der Schweizer hoffe ich näher erörtern zu können. Die Haupt¬
sache beruht auf dem Beweis, daß das ganze swevische und alemannische Volk
überhaupt nicht vom Norden her eingewandert, sondern von jeher in diesen
Sitzen gewesen. Der zweite Beweis muß zeigen, daß die Colonien, deren die
alten Lieder gedenken, in Sprache und Stammesart von den Alemannen gar
nicht verschieden sind, und daß das Mutterland, aus dem sie ausgewandert
sind, nach der Beschreibung kein anderes sein kann als Schwaben oder höch¬
stens Thüringen."

Der Beweis, daß die Bewohner der Urcantone keine Scandinavier und
ebensowenig Niedersachsen sind, ist längst nicht mehr zu führen. In den
Waldstätten aber steht die Frage immer noch auf dem Flecke, der ihr durch
den Einfluß der Müller'schen Schriften angewiesen worden ist; denn, wie
Rochholz sagt, "das conservative Herkommen, die ihm dienende Obrigkeit und
die diesen beiden wiederum dienstbare Presse sind hier die drei Gewalten, welche
den historischen Aberglauben pflanzen und erhalten." "Seitdem die Popular-
schriften in Form von Volkskalendern, Volksbibliotheken, Schulbüchern u. d.
die untern Klassen ausbeuten, sind alttraditionelle (aber unrichtige, vor
einigen Jahrhunderten zu bestimmten Zwecken erfundene und in Umlauf ge¬
setzte) Geschtchtsanschauungen auch unter dem Theile des Volkes verbreitet,
der sonst nicht liest. Als in den zwanziger Jahren die beiden Sprachforscher
Schmeller und Schottky die deutschen Gemeinden bei Verona und Vicenza
bereisten, um deren Abkunft und Mundart kennen zu lernen, erklärten ihnen
die Bauern jener isolirten Dörfer: "Bir samt Cimbarn" -- wir sind Cimbern.
sehnliches mag man jetzt auch in den Waldstätten meinen. Wenigstens hat
ste Zschokke in "Des Schweizerlandes Geschichten" zu Cimbern gemacht und
diese Abstammung aus der Aehnlichkeit dortiger Geschlechtsnamen mit skan¬
dinavischen erweisen zu können geglaubt -- als ob es in der Zeit, in welche
jene vermeintliche Wanderung verlegt wird, schon Geschlechtsnamen ge¬
geben hätte."

Mit gutem Rechte schließt Rochholz diesen Theil seiner Untersuchung
Mit den Worten:

"Wenn nun auch der Mythus von Toko-Tell ein echter ist, so sind doch
die Vereinigung zweier mythischen Gestalten und Schicksale zu einem speciell
helvetischen Zwecke, ferner die Uevertragung einer vorzeitlichen Sage auf
eine chronologisch fixirte schweizerische Begebenheit (den die Freiheit begrün¬
denden Aufstand um den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts), sodann das
Hereinziehen der gothischen und der longobardischen Wandersage auf das
Minzige und viel später bevölkerte Gebiet am Vierwaldstätter See zusammen


auf seine soeben mitgetheilten Phantasten die folgende Zuschrift erhielt und
unter lebhafter Zustimmung entgegennahm: „Die besondere Frage von der Ein¬
wanderung der Schweizer hoffe ich näher erörtern zu können. Die Haupt¬
sache beruht auf dem Beweis, daß das ganze swevische und alemannische Volk
überhaupt nicht vom Norden her eingewandert, sondern von jeher in diesen
Sitzen gewesen. Der zweite Beweis muß zeigen, daß die Colonien, deren die
alten Lieder gedenken, in Sprache und Stammesart von den Alemannen gar
nicht verschieden sind, und daß das Mutterland, aus dem sie ausgewandert
sind, nach der Beschreibung kein anderes sein kann als Schwaben oder höch¬
stens Thüringen."

Der Beweis, daß die Bewohner der Urcantone keine Scandinavier und
ebensowenig Niedersachsen sind, ist längst nicht mehr zu führen. In den
Waldstätten aber steht die Frage immer noch auf dem Flecke, der ihr durch
den Einfluß der Müller'schen Schriften angewiesen worden ist; denn, wie
Rochholz sagt, „das conservative Herkommen, die ihm dienende Obrigkeit und
die diesen beiden wiederum dienstbare Presse sind hier die drei Gewalten, welche
den historischen Aberglauben pflanzen und erhalten." „Seitdem die Popular-
schriften in Form von Volkskalendern, Volksbibliotheken, Schulbüchern u. d.
die untern Klassen ausbeuten, sind alttraditionelle (aber unrichtige, vor
einigen Jahrhunderten zu bestimmten Zwecken erfundene und in Umlauf ge¬
setzte) Geschtchtsanschauungen auch unter dem Theile des Volkes verbreitet,
der sonst nicht liest. Als in den zwanziger Jahren die beiden Sprachforscher
Schmeller und Schottky die deutschen Gemeinden bei Verona und Vicenza
bereisten, um deren Abkunft und Mundart kennen zu lernen, erklärten ihnen
die Bauern jener isolirten Dörfer: „Bir samt Cimbarn" — wir sind Cimbern.
sehnliches mag man jetzt auch in den Waldstätten meinen. Wenigstens hat
ste Zschokke in „Des Schweizerlandes Geschichten" zu Cimbern gemacht und
diese Abstammung aus der Aehnlichkeit dortiger Geschlechtsnamen mit skan¬
dinavischen erweisen zu können geglaubt — als ob es in der Zeit, in welche
jene vermeintliche Wanderung verlegt wird, schon Geschlechtsnamen ge¬
geben hätte."

Mit gutem Rechte schließt Rochholz diesen Theil seiner Untersuchung
Mit den Worten:

„Wenn nun auch der Mythus von Toko-Tell ein echter ist, so sind doch
die Vereinigung zweier mythischen Gestalten und Schicksale zu einem speciell
helvetischen Zwecke, ferner die Uevertragung einer vorzeitlichen Sage auf
eine chronologisch fixirte schweizerische Begebenheit (den die Freiheit begrün¬
denden Aufstand um den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts), sodann das
Hereinziehen der gothischen und der longobardischen Wandersage auf das
Minzige und viel später bevölkerte Gebiet am Vierwaldstätter See zusammen


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[0097] auf seine soeben mitgetheilten Phantasten die folgende Zuschrift erhielt und unter lebhafter Zustimmung entgegennahm: „Die besondere Frage von der Ein¬ wanderung der Schweizer hoffe ich näher erörtern zu können. Die Haupt¬ sache beruht auf dem Beweis, daß das ganze swevische und alemannische Volk überhaupt nicht vom Norden her eingewandert, sondern von jeher in diesen Sitzen gewesen. Der zweite Beweis muß zeigen, daß die Colonien, deren die alten Lieder gedenken, in Sprache und Stammesart von den Alemannen gar nicht verschieden sind, und daß das Mutterland, aus dem sie ausgewandert sind, nach der Beschreibung kein anderes sein kann als Schwaben oder höch¬ stens Thüringen." Der Beweis, daß die Bewohner der Urcantone keine Scandinavier und ebensowenig Niedersachsen sind, ist längst nicht mehr zu führen. In den Waldstätten aber steht die Frage immer noch auf dem Flecke, der ihr durch den Einfluß der Müller'schen Schriften angewiesen worden ist; denn, wie Rochholz sagt, „das conservative Herkommen, die ihm dienende Obrigkeit und die diesen beiden wiederum dienstbare Presse sind hier die drei Gewalten, welche den historischen Aberglauben pflanzen und erhalten." „Seitdem die Popular- schriften in Form von Volkskalendern, Volksbibliotheken, Schulbüchern u. d. die untern Klassen ausbeuten, sind alttraditionelle (aber unrichtige, vor einigen Jahrhunderten zu bestimmten Zwecken erfundene und in Umlauf ge¬ setzte) Geschtchtsanschauungen auch unter dem Theile des Volkes verbreitet, der sonst nicht liest. Als in den zwanziger Jahren die beiden Sprachforscher Schmeller und Schottky die deutschen Gemeinden bei Verona und Vicenza bereisten, um deren Abkunft und Mundart kennen zu lernen, erklärten ihnen die Bauern jener isolirten Dörfer: „Bir samt Cimbarn" — wir sind Cimbern. sehnliches mag man jetzt auch in den Waldstätten meinen. Wenigstens hat ste Zschokke in „Des Schweizerlandes Geschichten" zu Cimbern gemacht und diese Abstammung aus der Aehnlichkeit dortiger Geschlechtsnamen mit skan¬ dinavischen erweisen zu können geglaubt — als ob es in der Zeit, in welche jene vermeintliche Wanderung verlegt wird, schon Geschlechtsnamen ge¬ geben hätte." Mit gutem Rechte schließt Rochholz diesen Theil seiner Untersuchung Mit den Worten: „Wenn nun auch der Mythus von Toko-Tell ein echter ist, so sind doch die Vereinigung zweier mythischen Gestalten und Schicksale zu einem speciell helvetischen Zwecke, ferner die Uevertragung einer vorzeitlichen Sage auf eine chronologisch fixirte schweizerische Begebenheit (den die Freiheit begrün¬ denden Aufstand um den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts), sodann das Hereinziehen der gothischen und der longobardischen Wandersage auf das Minzige und viel später bevölkerte Gebiet am Vierwaldstätter See zusammen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/97>, abgerufen am 15.05.2024.