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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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der Gutsbesitzer mit dem prächtigen Viergespann vor der Kutsche kam nicht.
Endlich hieß es: Heute wird Anastasia mit Hermcmnowski getraut! -- Da er¬
schien Anastasia bei meiner Schwester, in ihren schönen braunen Augen Thränen.
Sie hatte auch von dem Gerede gehört. schluchzend warf sie sich der Freundin
an die Brust: "Es ist alles Lüge, theuerstes Herz, bei Gott im Himmel! Du
glaubst nicht, wie schlecht die Menschen sind, daß sie mir so etwas nachsagen!"
-- Das war Vormittag. -- Am Nachmittag sah meine Schwester sie mit dem
Myrthenkranz im Haar am Arm des glückstrahlenden Hermannowski nach
der Kirche gehen. -- Eine halbe Stunde darauf war sie wieder bei der
"Freundin". Ein neuer Strom von Thränen. "Ach, Geliebte, ich bin sehr
unglücklich! Das Schicksal wollte es einmal nicht anders, ich mußte ihn
doch nehmen."

Wie ist -- abgesehen von der Herzenshärte -- diese unerhörte Lügen¬
haftigkeit bei einem jungen Mädchen zu erklären? Ich glaube einzig durch die
Hoffnung, es würde vielleicht noch am letzten Tage, in der letzten Stunde der
Graf mit sechs oder doch der Gutsbesitzer mit vier Jsabellen oder Rappen an¬
kommen. Dann hätte es sich durch die Thatsache erwiesen, daß nicht die schöne
Anastasia, sondern die "schlechten Menschen" gelogen hatten. Hermannowski
hätte sich müssen zufrieden geben, denn er war ja "nur Inspector". Nun,
"da das Schicksal es nicht anders wollte", mußte Anastasia von ihrem Un¬
glück um so schwerer betroffen sein, als ihre so verachtete Schwester eigentlich
eine bessere Partie machte als sie. Paulina hatte schon Jahr und Tag vorher
einen kleinen Besitzer geheirathet, mit dein sie ganz glücklich lebte, zumal sie
ihre Pflichten als Hausfrau wacker erfüllte.

Die Hauptspeculativn der Familie Kowalski mißlang also. Sie gelang
aber bei einem der Söhne. Der älteste gewährte kaum Aussichten dazu, er
besaß ein wenig bestechendes Aeußere und noch weniger Kopf. Es geschah
vielleicht zu seinem Glück, daß er schon mit 20 Jahren an einer hitzigen Krank¬
heit starb. Der jüngste war gewandter als sein älterer Bruder, konnte aber
ebenso wenig die Bücher leiden und blieb in Sexta oder Quinta stecken. Er
ist verschollen und wird, wenn noch am Leben, irgendwo auf polnischem Boden
ein kümmerliches Dasein fristen. Der geistig begabteste und gewandteste der
drei Brüder war der mittlere, Apollinar; er brachte es bis Tertia, und wenn
er die Schule nicht weiter besuchte und einen Beruf mit geistiger Arbeit wühlte,
so lag das nicht am Mangel an Fähigkeiten, sondern an seiner Abneigung gegen
die Arbeit und daran, daß sein Sinn ganz darauf gerichtet war, den Eleganten
zu spielen. So ging er denn ab und verschwand bald aus dem überwiegend
deutschen Westpreußen nach dem "Herzogthum", wo unter den dort zahlreichen


der Gutsbesitzer mit dem prächtigen Viergespann vor der Kutsche kam nicht.
Endlich hieß es: Heute wird Anastasia mit Hermcmnowski getraut! — Da er¬
schien Anastasia bei meiner Schwester, in ihren schönen braunen Augen Thränen.
Sie hatte auch von dem Gerede gehört. schluchzend warf sie sich der Freundin
an die Brust: „Es ist alles Lüge, theuerstes Herz, bei Gott im Himmel! Du
glaubst nicht, wie schlecht die Menschen sind, daß sie mir so etwas nachsagen!"
— Das war Vormittag. — Am Nachmittag sah meine Schwester sie mit dem
Myrthenkranz im Haar am Arm des glückstrahlenden Hermannowski nach
der Kirche gehen. — Eine halbe Stunde darauf war sie wieder bei der
„Freundin". Ein neuer Strom von Thränen. „Ach, Geliebte, ich bin sehr
unglücklich! Das Schicksal wollte es einmal nicht anders, ich mußte ihn
doch nehmen."

Wie ist — abgesehen von der Herzenshärte — diese unerhörte Lügen¬
haftigkeit bei einem jungen Mädchen zu erklären? Ich glaube einzig durch die
Hoffnung, es würde vielleicht noch am letzten Tage, in der letzten Stunde der
Graf mit sechs oder doch der Gutsbesitzer mit vier Jsabellen oder Rappen an¬
kommen. Dann hätte es sich durch die Thatsache erwiesen, daß nicht die schöne
Anastasia, sondern die „schlechten Menschen" gelogen hatten. Hermannowski
hätte sich müssen zufrieden geben, denn er war ja „nur Inspector". Nun,
„da das Schicksal es nicht anders wollte", mußte Anastasia von ihrem Un¬
glück um so schwerer betroffen sein, als ihre so verachtete Schwester eigentlich
eine bessere Partie machte als sie. Paulina hatte schon Jahr und Tag vorher
einen kleinen Besitzer geheirathet, mit dein sie ganz glücklich lebte, zumal sie
ihre Pflichten als Hausfrau wacker erfüllte.

Die Hauptspeculativn der Familie Kowalski mißlang also. Sie gelang
aber bei einem der Söhne. Der älteste gewährte kaum Aussichten dazu, er
besaß ein wenig bestechendes Aeußere und noch weniger Kopf. Es geschah
vielleicht zu seinem Glück, daß er schon mit 20 Jahren an einer hitzigen Krank¬
heit starb. Der jüngste war gewandter als sein älterer Bruder, konnte aber
ebenso wenig die Bücher leiden und blieb in Sexta oder Quinta stecken. Er
ist verschollen und wird, wenn noch am Leben, irgendwo auf polnischem Boden
ein kümmerliches Dasein fristen. Der geistig begabteste und gewandteste der
drei Brüder war der mittlere, Apollinar; er brachte es bis Tertia, und wenn
er die Schule nicht weiter besuchte und einen Beruf mit geistiger Arbeit wühlte,
so lag das nicht am Mangel an Fähigkeiten, sondern an seiner Abneigung gegen
die Arbeit und daran, daß sein Sinn ganz darauf gerichtet war, den Eleganten
zu spielen. So ging er denn ab und verschwand bald aus dem überwiegend
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[0162] der Gutsbesitzer mit dem prächtigen Viergespann vor der Kutsche kam nicht. Endlich hieß es: Heute wird Anastasia mit Hermcmnowski getraut! — Da er¬ schien Anastasia bei meiner Schwester, in ihren schönen braunen Augen Thränen. Sie hatte auch von dem Gerede gehört. schluchzend warf sie sich der Freundin an die Brust: „Es ist alles Lüge, theuerstes Herz, bei Gott im Himmel! Du glaubst nicht, wie schlecht die Menschen sind, daß sie mir so etwas nachsagen!" — Das war Vormittag. — Am Nachmittag sah meine Schwester sie mit dem Myrthenkranz im Haar am Arm des glückstrahlenden Hermannowski nach der Kirche gehen. — Eine halbe Stunde darauf war sie wieder bei der „Freundin". Ein neuer Strom von Thränen. „Ach, Geliebte, ich bin sehr unglücklich! Das Schicksal wollte es einmal nicht anders, ich mußte ihn doch nehmen." Wie ist — abgesehen von der Herzenshärte — diese unerhörte Lügen¬ haftigkeit bei einem jungen Mädchen zu erklären? Ich glaube einzig durch die Hoffnung, es würde vielleicht noch am letzten Tage, in der letzten Stunde der Graf mit sechs oder doch der Gutsbesitzer mit vier Jsabellen oder Rappen an¬ kommen. Dann hätte es sich durch die Thatsache erwiesen, daß nicht die schöne Anastasia, sondern die „schlechten Menschen" gelogen hatten. Hermannowski hätte sich müssen zufrieden geben, denn er war ja „nur Inspector". Nun, „da das Schicksal es nicht anders wollte", mußte Anastasia von ihrem Un¬ glück um so schwerer betroffen sein, als ihre so verachtete Schwester eigentlich eine bessere Partie machte als sie. Paulina hatte schon Jahr und Tag vorher einen kleinen Besitzer geheirathet, mit dein sie ganz glücklich lebte, zumal sie ihre Pflichten als Hausfrau wacker erfüllte. Die Hauptspeculativn der Familie Kowalski mißlang also. Sie gelang aber bei einem der Söhne. Der älteste gewährte kaum Aussichten dazu, er besaß ein wenig bestechendes Aeußere und noch weniger Kopf. Es geschah vielleicht zu seinem Glück, daß er schon mit 20 Jahren an einer hitzigen Krank¬ heit starb. Der jüngste war gewandter als sein älterer Bruder, konnte aber ebenso wenig die Bücher leiden und blieb in Sexta oder Quinta stecken. Er ist verschollen und wird, wenn noch am Leben, irgendwo auf polnischem Boden ein kümmerliches Dasein fristen. Der geistig begabteste und gewandteste der drei Brüder war der mittlere, Apollinar; er brachte es bis Tertia, und wenn er die Schule nicht weiter besuchte und einen Beruf mit geistiger Arbeit wühlte, so lag das nicht am Mangel an Fähigkeiten, sondern an seiner Abneigung gegen die Arbeit und daran, daß sein Sinn ganz darauf gerichtet war, den Eleganten zu spielen. So ging er denn ab und verschwand bald aus dem überwiegend deutschen Westpreußen nach dem „Herzogthum", wo unter den dort zahlreichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/162>, abgerufen am 22.05.2024.