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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Hause bleibt, während die rührigen Gegenparteien das Losungswort ausgebe:::
"all Mann auf Deck!" -- und auch befolgt sehen.

Wir werden später darauf zurückkommen. Zuerst nur das kurze Resultat
der bayrischen Wahlen, soweit es jetzt feststeht; denn noch sind die Stichwahlen
nicht bethätigt, und diese sind es, die die treffenden Parteien, ja das ganze
Land noch in erregter Spannung halten. Definitiv gewählt sind 35 Abge¬
ordnete; 28 davou gehören dein Centrum, 2 der bayrisch-klerikalen Partei,
11 der nationalliberalen, 2 der freieouservativeu Fraction, 1 der Fortschritts¬
partei, 1 der Gruppe Löwe-Zinn an. Aus diesen Angaben erhellt schon die
wesentliche Verschiebung, in welcher die Abgeordneten des zweitgrößten deutschen
Staates ihre Plätze im Parlamente einnehmen werden. Zuerst trifft das das
Centrum; in ihm saßen bisher 32 tapfere schwarze Landsknechte nnter dem
Fähnlein des "Einsiedlers von der Trausnitz", Herrn Dr. Jörg. Jetzt gehen
dem ohnehin in der letzten Zeit nicht ganz glücklichen Partisanen der bayrischen
"Patrioten" ans einmal 4 Mann ab. Einen kann er möglicherweise noch
wieder gewinnen*), den würdigen Stadtpfarrer zu Se. Peter in München, jenen
Herrn Dr. Westermeyer, der anf seiner Kanzel den christlichen Wunsch ausge¬
sprochen, daß den Fortschritt der Teufel holen möge, und der in jener denk¬
würdigen Abendsitzung am 19. Juli 1870, als es sich um den Eintritt Bayerns
in den Kampf für Deutschlands Recht und Ehre handelte, für Neutralität
stimmte mit dem noch christlicheren Dictum: "Wenn mein Haus in Gefahr ist,
brauche ich nicht das brennende des Nächsten zu löschen." Den Mann könnte
allenfalls das Certum noch haben, denn er kommt im Wahlkreis München zur
Stichwahl. Aber eine andere, empfindlichere Einbuße hat die bisher im Reichs¬
tag wenigstens scheinbar so einträchtige bayrische klerikale Fraction erlitten.
In ihrer eignen Mitte ist ein zwar lange schon vorhandener, aber immer noch
etwas überkitteter, ziemlich tief gehender Riß aufgebrochen: die Extremen wollen
sich das Commando Jörgs nicht länger gefallen lassen. "Was Döllinger einst
in kirchlicher Beziehung war, das war bis jetzt Jörg in politischer; was jener
jetzt ist, das ist auch dieser jetzt", rief in den letzten Tagen ein bäuerliches
Mitglied der bayrischen Abgeordnetenkammer in einer Volksversammlung mit
Emphase aus, und einer seiner geistlichen College" donnerte von der Redner¬
bühne herab: "Wir müssen dahin trachten, den Großen und Gewaltigen wieder
eine Verlegenheit zu werden. Wie wollen wir jedoch etwas zu erreichen suchen?
Durch das Mittel der Revolution? Durch künstliche Erregung der Geister?
Nimmermehr! Wir wollen etwas zu erreichen suchen, indem wir fordern,
unaufhörlich fordern, und nicht aufhören zu fordern. Man soll nicht nur mit



*) Ist s D. Red. eitdem geschehen.

Hause bleibt, während die rührigen Gegenparteien das Losungswort ausgebe:::
„all Mann auf Deck!" — und auch befolgt sehen.

Wir werden später darauf zurückkommen. Zuerst nur das kurze Resultat
der bayrischen Wahlen, soweit es jetzt feststeht; denn noch sind die Stichwahlen
nicht bethätigt, und diese sind es, die die treffenden Parteien, ja das ganze
Land noch in erregter Spannung halten. Definitiv gewählt sind 35 Abge¬
ordnete; 28 davou gehören dein Centrum, 2 der bayrisch-klerikalen Partei,
11 der nationalliberalen, 2 der freieouservativeu Fraction, 1 der Fortschritts¬
partei, 1 der Gruppe Löwe-Zinn an. Aus diesen Angaben erhellt schon die
wesentliche Verschiebung, in welcher die Abgeordneten des zweitgrößten deutschen
Staates ihre Plätze im Parlamente einnehmen werden. Zuerst trifft das das
Centrum; in ihm saßen bisher 32 tapfere schwarze Landsknechte nnter dem
Fähnlein des „Einsiedlers von der Trausnitz", Herrn Dr. Jörg. Jetzt gehen
dem ohnehin in der letzten Zeit nicht ganz glücklichen Partisanen der bayrischen
„Patrioten" ans einmal 4 Mann ab. Einen kann er möglicherweise noch
wieder gewinnen*), den würdigen Stadtpfarrer zu Se. Peter in München, jenen
Herrn Dr. Westermeyer, der anf seiner Kanzel den christlichen Wunsch ausge¬
sprochen, daß den Fortschritt der Teufel holen möge, und der in jener denk¬
würdigen Abendsitzung am 19. Juli 1870, als es sich um den Eintritt Bayerns
in den Kampf für Deutschlands Recht und Ehre handelte, für Neutralität
stimmte mit dem noch christlicheren Dictum: „Wenn mein Haus in Gefahr ist,
brauche ich nicht das brennende des Nächsten zu löschen." Den Mann könnte
allenfalls das Certum noch haben, denn er kommt im Wahlkreis München zur
Stichwahl. Aber eine andere, empfindlichere Einbuße hat die bisher im Reichs¬
tag wenigstens scheinbar so einträchtige bayrische klerikale Fraction erlitten.
In ihrer eignen Mitte ist ein zwar lange schon vorhandener, aber immer noch
etwas überkitteter, ziemlich tief gehender Riß aufgebrochen: die Extremen wollen
sich das Commando Jörgs nicht länger gefallen lassen. „Was Döllinger einst
in kirchlicher Beziehung war, das war bis jetzt Jörg in politischer; was jener
jetzt ist, das ist auch dieser jetzt", rief in den letzten Tagen ein bäuerliches
Mitglied der bayrischen Abgeordnetenkammer in einer Volksversammlung mit
Emphase aus, und einer seiner geistlichen College» donnerte von der Redner¬
bühne herab: „Wir müssen dahin trachten, den Großen und Gewaltigen wieder
eine Verlegenheit zu werden. Wie wollen wir jedoch etwas zu erreichen suchen?
Durch das Mittel der Revolution? Durch künstliche Erregung der Geister?
Nimmermehr! Wir wollen etwas zu erreichen suchen, indem wir fordern,
unaufhörlich fordern, und nicht aufhören zu fordern. Man soll nicht nur mit



*) Ist s D. Red. eitdem geschehen.
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[0317] Hause bleibt, während die rührigen Gegenparteien das Losungswort ausgebe::: „all Mann auf Deck!" — und auch befolgt sehen. Wir werden später darauf zurückkommen. Zuerst nur das kurze Resultat der bayrischen Wahlen, soweit es jetzt feststeht; denn noch sind die Stichwahlen nicht bethätigt, und diese sind es, die die treffenden Parteien, ja das ganze Land noch in erregter Spannung halten. Definitiv gewählt sind 35 Abge¬ ordnete; 28 davou gehören dein Centrum, 2 der bayrisch-klerikalen Partei, 11 der nationalliberalen, 2 der freieouservativeu Fraction, 1 der Fortschritts¬ partei, 1 der Gruppe Löwe-Zinn an. Aus diesen Angaben erhellt schon die wesentliche Verschiebung, in welcher die Abgeordneten des zweitgrößten deutschen Staates ihre Plätze im Parlamente einnehmen werden. Zuerst trifft das das Centrum; in ihm saßen bisher 32 tapfere schwarze Landsknechte nnter dem Fähnlein des „Einsiedlers von der Trausnitz", Herrn Dr. Jörg. Jetzt gehen dem ohnehin in der letzten Zeit nicht ganz glücklichen Partisanen der bayrischen „Patrioten" ans einmal 4 Mann ab. Einen kann er möglicherweise noch wieder gewinnen*), den würdigen Stadtpfarrer zu Se. Peter in München, jenen Herrn Dr. Westermeyer, der anf seiner Kanzel den christlichen Wunsch ausge¬ sprochen, daß den Fortschritt der Teufel holen möge, und der in jener denk¬ würdigen Abendsitzung am 19. Juli 1870, als es sich um den Eintritt Bayerns in den Kampf für Deutschlands Recht und Ehre handelte, für Neutralität stimmte mit dem noch christlicheren Dictum: „Wenn mein Haus in Gefahr ist, brauche ich nicht das brennende des Nächsten zu löschen." Den Mann könnte allenfalls das Certum noch haben, denn er kommt im Wahlkreis München zur Stichwahl. Aber eine andere, empfindlichere Einbuße hat die bisher im Reichs¬ tag wenigstens scheinbar so einträchtige bayrische klerikale Fraction erlitten. In ihrer eignen Mitte ist ein zwar lange schon vorhandener, aber immer noch etwas überkitteter, ziemlich tief gehender Riß aufgebrochen: die Extremen wollen sich das Commando Jörgs nicht länger gefallen lassen. „Was Döllinger einst in kirchlicher Beziehung war, das war bis jetzt Jörg in politischer; was jener jetzt ist, das ist auch dieser jetzt", rief in den letzten Tagen ein bäuerliches Mitglied der bayrischen Abgeordnetenkammer in einer Volksversammlung mit Emphase aus, und einer seiner geistlichen College» donnerte von der Redner¬ bühne herab: „Wir müssen dahin trachten, den Großen und Gewaltigen wieder eine Verlegenheit zu werden. Wie wollen wir jedoch etwas zu erreichen suchen? Durch das Mittel der Revolution? Durch künstliche Erregung der Geister? Nimmermehr! Wir wollen etwas zu erreichen suchen, indem wir fordern, unaufhörlich fordern, und nicht aufhören zu fordern. Man soll nicht nur mit *) Ist s D. Red. eitdem geschehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/317>, abgerufen am 22.05.2024.