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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Inn neuen Jahr.

Am Ausgange des alten Jahres wiederholen sich die Scenen, welche wir
erlebten, als wir im Jahre 1870 den ersten großen Schritt zur deutschen
Rechtseinheit thaten, mit Annahme des deutschen Strafgesetzbuchs. Alle reichs¬
feindlichen Parteien -- selbstverständlich einschließlich der sogen, deutschen Fort¬
schrittspartei -- geberden sich so, als sei die letzte Würde des Parlamentes
begraben, der letzte Schimmer dessen, was man Charakter und Princip zu
nennen wagen durfte, erloschen. Sie geberden sich so, weil bei den großen
Justizgesetzen zwischen den beiden Katheder des Parlaments- und Regierungs¬
willens, die im rechten Winkel aufeinanderstießen, die Diagonale gezogen und
zum Gesetz geworden ist. Das Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte er¬
kennen sie Alle an, die Schwarzen und Rothen, die Polen und die Fraction
Eugen Richter-Saucken. Aber in der Politik soll es nicht gelten. Da setzt
man in schnurgerader Linie über den Strom. Da giebt es keine Reibung und
keine Hindernisse für die von der Curie und der "Volkszeitung", dem "Vor¬
wärts" und dem "Curier poznanski" sauctionirten unveräußerlichen "Principien."
Da heißt es biegen oder brechen, sonst ruht, um mit Herrn Saucken zu reden,
die parlamentarische Würde und Freiheit unter einem Leichensteine. KabsÄnt
sibi dürfte die geeignete Grabschrift lauten -- für die überlebenden Urheber
dieser Beisetzung.

Auch die vollkommene Verständnißlosigkeit für die Unerträglichkeit und den
Jammer der bisherigen deutschei; Rechtszerrisfenheit, für die seit Jahrhunderten
überkommenen und fortgelebten Rechtsmißbränche findet sich bei den Gegnern
des Zustandekommens der deutschen Justizgesetze heute mit derselben rührenden
Naivetät ausgeprägt, wie 1870 in den für Annahme des deutschen Strafgesetz¬
buchs entscheidenden Tagen. Damals wie heute verschlossen sich die Gegner
des Abschlusses, die Anwälte der Ablehnung und Vertagung auf unbestimmte
Zeit, geflissentlich die Augen über die Zustände, die fortbestehen mußten, wenn


Grenzbote" l. 1877- 1
Inn neuen Jahr.

Am Ausgange des alten Jahres wiederholen sich die Scenen, welche wir
erlebten, als wir im Jahre 1870 den ersten großen Schritt zur deutschen
Rechtseinheit thaten, mit Annahme des deutschen Strafgesetzbuchs. Alle reichs¬
feindlichen Parteien — selbstverständlich einschließlich der sogen, deutschen Fort¬
schrittspartei — geberden sich so, als sei die letzte Würde des Parlamentes
begraben, der letzte Schimmer dessen, was man Charakter und Princip zu
nennen wagen durfte, erloschen. Sie geberden sich so, weil bei den großen
Justizgesetzen zwischen den beiden Katheder des Parlaments- und Regierungs¬
willens, die im rechten Winkel aufeinanderstießen, die Diagonale gezogen und
zum Gesetz geworden ist. Das Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte er¬
kennen sie Alle an, die Schwarzen und Rothen, die Polen und die Fraction
Eugen Richter-Saucken. Aber in der Politik soll es nicht gelten. Da setzt
man in schnurgerader Linie über den Strom. Da giebt es keine Reibung und
keine Hindernisse für die von der Curie und der „Volkszeitung", dem „Vor¬
wärts" und dem „Curier poznanski" sauctionirten unveräußerlichen „Principien."
Da heißt es biegen oder brechen, sonst ruht, um mit Herrn Saucken zu reden,
die parlamentarische Würde und Freiheit unter einem Leichensteine. KabsÄnt
sibi dürfte die geeignete Grabschrift lauten — für die überlebenden Urheber
dieser Beisetzung.

Auch die vollkommene Verständnißlosigkeit für die Unerträglichkeit und den
Jammer der bisherigen deutschei; Rechtszerrisfenheit, für die seit Jahrhunderten
überkommenen und fortgelebten Rechtsmißbränche findet sich bei den Gegnern
des Zustandekommens der deutschen Justizgesetze heute mit derselben rührenden
Naivetät ausgeprägt, wie 1870 in den für Annahme des deutschen Strafgesetz¬
buchs entscheidenden Tagen. Damals wie heute verschlossen sich die Gegner
des Abschlusses, die Anwälte der Ablehnung und Vertagung auf unbestimmte
Zeit, geflissentlich die Augen über die Zustände, die fortbestehen mußten, wenn


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[0009] Inn neuen Jahr. Am Ausgange des alten Jahres wiederholen sich die Scenen, welche wir erlebten, als wir im Jahre 1870 den ersten großen Schritt zur deutschen Rechtseinheit thaten, mit Annahme des deutschen Strafgesetzbuchs. Alle reichs¬ feindlichen Parteien — selbstverständlich einschließlich der sogen, deutschen Fort¬ schrittspartei — geberden sich so, als sei die letzte Würde des Parlamentes begraben, der letzte Schimmer dessen, was man Charakter und Princip zu nennen wagen durfte, erloschen. Sie geberden sich so, weil bei den großen Justizgesetzen zwischen den beiden Katheder des Parlaments- und Regierungs¬ willens, die im rechten Winkel aufeinanderstießen, die Diagonale gezogen und zum Gesetz geworden ist. Das Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte er¬ kennen sie Alle an, die Schwarzen und Rothen, die Polen und die Fraction Eugen Richter-Saucken. Aber in der Politik soll es nicht gelten. Da setzt man in schnurgerader Linie über den Strom. Da giebt es keine Reibung und keine Hindernisse für die von der Curie und der „Volkszeitung", dem „Vor¬ wärts" und dem „Curier poznanski" sauctionirten unveräußerlichen „Principien." Da heißt es biegen oder brechen, sonst ruht, um mit Herrn Saucken zu reden, die parlamentarische Würde und Freiheit unter einem Leichensteine. KabsÄnt sibi dürfte die geeignete Grabschrift lauten — für die überlebenden Urheber dieser Beisetzung. Auch die vollkommene Verständnißlosigkeit für die Unerträglichkeit und den Jammer der bisherigen deutschei; Rechtszerrisfenheit, für die seit Jahrhunderten überkommenen und fortgelebten Rechtsmißbränche findet sich bei den Gegnern des Zustandekommens der deutschen Justizgesetze heute mit derselben rührenden Naivetät ausgeprägt, wie 1870 in den für Annahme des deutschen Strafgesetz¬ buchs entscheidenden Tagen. Damals wie heute verschlossen sich die Gegner des Abschlusses, die Anwälte der Ablehnung und Vertagung auf unbestimmte Zeit, geflissentlich die Augen über die Zustände, die fortbestehen mußten, wenn Grenzbote» l. 1877- 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/9>, abgerufen am 15.06.2024.