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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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dem treffenden Worte Volksetymologie bezeichnet hat. Diese Erscheinung
besteht darin, daß das Verständniß für die ursprüngliche Bedeutung eines
Wortes im Volksmunde sich allmählich verdunkelt und schließlich ganz verloren
geht, daß der Verwitterungsprozeß, dem alle Lautkomplexe unterworfen sind,
hierdurch begünstigt und beschleunigt wird, und daß nnn, was das Wesentlichste
ist, der Volksmund diesen Prozeß so lenkt und leitet, die unverständlich ge¬
wordenen Lautkomplexe durch Anlehnen, Anklingen lassen, Assimiliren -- oder
wie man sagen will -- an bekannte und verstandene Worte so umbildet und
zurechtlegt, bis ein völlig neues und scheinbar wieder sinnvolles Wort daraus
hervorgeht. Daß dieses neue Gebilde, bei Lichte besehen, in den meisten, ja
fast in allen Fällen nicht nur ebensowenig Sinn hat wie das alte, sondern
eigentlich geradezu Unsinn geworden ist, insofern sich die neue Form mit dem
alten Begriffe nun gar nicht mehr deckt, darnach fragt das naive Sprachbe¬
wußtsein nicht; ihm ist es genug, daß das neu entstandene Wort ihm wieder
vertraut und anheimelnd klingt; dabei beruhigt es sich.

Diese interessante und massenhaft in der Sprache vorkommende Erschei¬
nung hat die Sprachwissenschaft in neuerer Zeit sehr oft beschäftigt. Zahl¬
reiche Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften haben Beiträge zur Erörterung
derselben gespendet. Zum ersten Male aber hat sie in größerem Umfange einer
unsrer trefflichsten Germanisten, Umdrehen, in einem kürzlich erschienenen präch¬
tigen Büchlein behandelt*), auf welches wir hiermit die Aufmerksamkeit aller,
die an der Beobachtung des Sprachgeistes Freude haben, lenken möchten. Das
Material der nachfolgenden Darstellung ist zum größten Theile eine Auslese
aus der freilich hundertfach reicheren Sammlung des erwähnten Buches; ein¬
zelnes hat der Verfasser dieses Aufsatzes aus eigner Beobachtung beigesteuert;
gruppirt hat er den Stoff nach eigenem Ermessen und in einer Weise, die
sich für den vorliegenden Zweck mehr zu empfehlen schien, als die Anordnung
bei Umdrehen.

Das oben in Kürze geschilderte Verfahren, welches die Sprache bei der
Volksetymologie einschlägt, ist im einzelnen Falle ein sehr mannigfaltiges.
Bald lehnt sie Fremdwörter an deutsche Wörter an, bald legt sie sich alt¬
deutsche Wörter, die im Volke nicht mehr verstanden und so gleichsam auch zu
Fremdwörtern geworden sind, neudeutsch zurecht, bald sucht sie für ein Fremd¬
wort einen Anhalt in einem andern Fremdworte, bald -- sogar dieser Fall
findet sich vereinzelt -- sucht sie für das gute deutsche Wort eine Stütze im
Fremdworte.



") Ueber deutsche Volksetymologie von Karl Gustaf Umdrehen, Heilbronn, Gebrüder
Henninger, 1876.

dem treffenden Worte Volksetymologie bezeichnet hat. Diese Erscheinung
besteht darin, daß das Verständniß für die ursprüngliche Bedeutung eines
Wortes im Volksmunde sich allmählich verdunkelt und schließlich ganz verloren
geht, daß der Verwitterungsprozeß, dem alle Lautkomplexe unterworfen sind,
hierdurch begünstigt und beschleunigt wird, und daß nnn, was das Wesentlichste
ist, der Volksmund diesen Prozeß so lenkt und leitet, die unverständlich ge¬
wordenen Lautkomplexe durch Anlehnen, Anklingen lassen, Assimiliren — oder
wie man sagen will — an bekannte und verstandene Worte so umbildet und
zurechtlegt, bis ein völlig neues und scheinbar wieder sinnvolles Wort daraus
hervorgeht. Daß dieses neue Gebilde, bei Lichte besehen, in den meisten, ja
fast in allen Fällen nicht nur ebensowenig Sinn hat wie das alte, sondern
eigentlich geradezu Unsinn geworden ist, insofern sich die neue Form mit dem
alten Begriffe nun gar nicht mehr deckt, darnach fragt das naive Sprachbe¬
wußtsein nicht; ihm ist es genug, daß das neu entstandene Wort ihm wieder
vertraut und anheimelnd klingt; dabei beruhigt es sich.

Diese interessante und massenhaft in der Sprache vorkommende Erschei¬
nung hat die Sprachwissenschaft in neuerer Zeit sehr oft beschäftigt. Zahl¬
reiche Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften haben Beiträge zur Erörterung
derselben gespendet. Zum ersten Male aber hat sie in größerem Umfange einer
unsrer trefflichsten Germanisten, Umdrehen, in einem kürzlich erschienenen präch¬
tigen Büchlein behandelt*), auf welches wir hiermit die Aufmerksamkeit aller,
die an der Beobachtung des Sprachgeistes Freude haben, lenken möchten. Das
Material der nachfolgenden Darstellung ist zum größten Theile eine Auslese
aus der freilich hundertfach reicheren Sammlung des erwähnten Buches; ein¬
zelnes hat der Verfasser dieses Aufsatzes aus eigner Beobachtung beigesteuert;
gruppirt hat er den Stoff nach eigenem Ermessen und in einer Weise, die
sich für den vorliegenden Zweck mehr zu empfehlen schien, als die Anordnung
bei Umdrehen.

Das oben in Kürze geschilderte Verfahren, welches die Sprache bei der
Volksetymologie einschlägt, ist im einzelnen Falle ein sehr mannigfaltiges.
Bald lehnt sie Fremdwörter an deutsche Wörter an, bald legt sie sich alt¬
deutsche Wörter, die im Volke nicht mehr verstanden und so gleichsam auch zu
Fremdwörtern geworden sind, neudeutsch zurecht, bald sucht sie für ein Fremd¬
wort einen Anhalt in einem andern Fremdworte, bald — sogar dieser Fall
findet sich vereinzelt — sucht sie für das gute deutsche Wort eine Stütze im
Fremdworte.



») Ueber deutsche Volksetymologie von Karl Gustaf Umdrehen, Heilbronn, Gebrüder
Henninger, 1876.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/126>, abgerufen am 17.06.2024.