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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Wahlbewegung, d. h. seit Jahr und Tag, sind die nationalökonomischen, bezie-
hungsweise socialpolitischen Reformbestrebungen die siZuliwra temporis. Für
die Agitation der Minoritätsparteien schien es kein wirksameres Mittel zu geben,
als den herrschenden wirthschaftlichen Nothstand der bisherigen Gesetzgebung
zur Last zu schieben und für den Fall des eigenen Wahlsieges eine gründliche
Verbesserung oder auch Beseitigung dieser Gesetzgebung in Aussicht zu stellen.
Die konservative, die ultramontane, die socialistische Partei -- sie alle haben
sich dieses Mittels nach Kräften bedient. Hörte man ihre Presse während der
Wahlperiode, so trug an allen Leiden des deutschen Volkes ganz ausschließlich
die Gesetzgebung die Schuld, zu welcher der böse Liberalismus die Regierung
verführt haben sollte -- wobei freilich das kleine Versehen mit unterlief, daß
gerade die am heftigsten angegriffenen Gesetze, die Gewerbeordnung, die Gesetze
über die Freizügigkeit, über den Unterstützungswohnsitz, über die Aktiengesell¬
schaften n. s. w., von Reichstagen beschlossen worden waren, in denen die
liberale Partei durchaus nicht über die Majorität verfügte. Zudem aber nahm
man vou liberaler Seite für die neue Gesetzgebung auch keineswegs eine Un¬
fehlbarkeit in Anspruch; was mau verlangte, war lediglich, daß die Mängel
derselben in der praktischen Erfahrung genau festgestellt seien, bevor man an
ihre Aenderung geht.

Mit besonderer Emphase war in den konservativen und ultramontanen
Wahlkundgebungen eine "gründliche Revision" der Gewerbeordnung angekündigt
worden. Man hat indeß bald erkennen müssen, daß sich dies Wort sehr viel
leichter aussprechen, als einlösen läßt. Auch der prinzipielle Gegner des Ge¬
setzes vom 21. Juni 1869 schüttelt einen umfassenden Revisionsentwurf nicht
aus dem Aermel. In größerem Umfange haben dies nur die Socialdemokraten
versucht. Dagegen haben sich gerade diejenigen, welche mit ihrer Verurtheilung
der Gewerbeordnung am buntesten aufgetreten, die Deutschkonservativen, mit
einem einzelnen Pnnkte, dem Verhältniß der Arbeitnehmer zu den Arbeitgebern
und der Lehrlinge zu den Lehrherren, begnügt. Allerdings ist dies derjenige
Punkt, über welchen, zum mindesten soweit es sich um das Lehrlingswesen
handelt, die Ansichten am wenigsten auseinander gehen. Auch auf national¬
liberaler Seite hatte man der Lehrlingsfrage seit kürzerer Zeit die größte Auf¬
merksamkeit zugewandt, und aus den Berathungen im Schooße der Partei war
schließlich eine Resolution hervorgegangen, welche die Gesichtspunkte angab,
uach denen das Lehrlingsverhältniß neu zu regeln sei. In ähnlichem Sinne
ging die Fortschrittspartei vor, während das Centrum eine Resolution ein¬
brachte, die nicht allein eine Umgestaltung der Gewerbeordnung überhaupt im
Sinne einer "Einschränkung" der Gewerbefreiheit, sondern auch eine Revision
des Freizügigkeits- und des Hastpflichtgesetzes forderte.


Grenzboten II. 1377. 25

Wahlbewegung, d. h. seit Jahr und Tag, sind die nationalökonomischen, bezie-
hungsweise socialpolitischen Reformbestrebungen die siZuliwra temporis. Für
die Agitation der Minoritätsparteien schien es kein wirksameres Mittel zu geben,
als den herrschenden wirthschaftlichen Nothstand der bisherigen Gesetzgebung
zur Last zu schieben und für den Fall des eigenen Wahlsieges eine gründliche
Verbesserung oder auch Beseitigung dieser Gesetzgebung in Aussicht zu stellen.
Die konservative, die ultramontane, die socialistische Partei — sie alle haben
sich dieses Mittels nach Kräften bedient. Hörte man ihre Presse während der
Wahlperiode, so trug an allen Leiden des deutschen Volkes ganz ausschließlich
die Gesetzgebung die Schuld, zu welcher der böse Liberalismus die Regierung
verführt haben sollte — wobei freilich das kleine Versehen mit unterlief, daß
gerade die am heftigsten angegriffenen Gesetze, die Gewerbeordnung, die Gesetze
über die Freizügigkeit, über den Unterstützungswohnsitz, über die Aktiengesell¬
schaften n. s. w., von Reichstagen beschlossen worden waren, in denen die
liberale Partei durchaus nicht über die Majorität verfügte. Zudem aber nahm
man vou liberaler Seite für die neue Gesetzgebung auch keineswegs eine Un¬
fehlbarkeit in Anspruch; was mau verlangte, war lediglich, daß die Mängel
derselben in der praktischen Erfahrung genau festgestellt seien, bevor man an
ihre Aenderung geht.

Mit besonderer Emphase war in den konservativen und ultramontanen
Wahlkundgebungen eine „gründliche Revision" der Gewerbeordnung angekündigt
worden. Man hat indeß bald erkennen müssen, daß sich dies Wort sehr viel
leichter aussprechen, als einlösen läßt. Auch der prinzipielle Gegner des Ge¬
setzes vom 21. Juni 1869 schüttelt einen umfassenden Revisionsentwurf nicht
aus dem Aermel. In größerem Umfange haben dies nur die Socialdemokraten
versucht. Dagegen haben sich gerade diejenigen, welche mit ihrer Verurtheilung
der Gewerbeordnung am buntesten aufgetreten, die Deutschkonservativen, mit
einem einzelnen Pnnkte, dem Verhältniß der Arbeitnehmer zu den Arbeitgebern
und der Lehrlinge zu den Lehrherren, begnügt. Allerdings ist dies derjenige
Punkt, über welchen, zum mindesten soweit es sich um das Lehrlingswesen
handelt, die Ansichten am wenigsten auseinander gehen. Auch auf national¬
liberaler Seite hatte man der Lehrlingsfrage seit kürzerer Zeit die größte Auf¬
merksamkeit zugewandt, und aus den Berathungen im Schooße der Partei war
schließlich eine Resolution hervorgegangen, welche die Gesichtspunkte angab,
uach denen das Lehrlingsverhältniß neu zu regeln sei. In ähnlichem Sinne
ging die Fortschrittspartei vor, während das Centrum eine Resolution ein¬
brachte, die nicht allein eine Umgestaltung der Gewerbeordnung überhaupt im
Sinne einer „Einschränkung" der Gewerbefreiheit, sondern auch eine Revision
des Freizügigkeits- und des Hastpflichtgesetzes forderte.


Grenzboten II. 1377. 25
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[0197] Wahlbewegung, d. h. seit Jahr und Tag, sind die nationalökonomischen, bezie- hungsweise socialpolitischen Reformbestrebungen die siZuliwra temporis. Für die Agitation der Minoritätsparteien schien es kein wirksameres Mittel zu geben, als den herrschenden wirthschaftlichen Nothstand der bisherigen Gesetzgebung zur Last zu schieben und für den Fall des eigenen Wahlsieges eine gründliche Verbesserung oder auch Beseitigung dieser Gesetzgebung in Aussicht zu stellen. Die konservative, die ultramontane, die socialistische Partei — sie alle haben sich dieses Mittels nach Kräften bedient. Hörte man ihre Presse während der Wahlperiode, so trug an allen Leiden des deutschen Volkes ganz ausschließlich die Gesetzgebung die Schuld, zu welcher der böse Liberalismus die Regierung verführt haben sollte — wobei freilich das kleine Versehen mit unterlief, daß gerade die am heftigsten angegriffenen Gesetze, die Gewerbeordnung, die Gesetze über die Freizügigkeit, über den Unterstützungswohnsitz, über die Aktiengesell¬ schaften n. s. w., von Reichstagen beschlossen worden waren, in denen die liberale Partei durchaus nicht über die Majorität verfügte. Zudem aber nahm man vou liberaler Seite für die neue Gesetzgebung auch keineswegs eine Un¬ fehlbarkeit in Anspruch; was mau verlangte, war lediglich, daß die Mängel derselben in der praktischen Erfahrung genau festgestellt seien, bevor man an ihre Aenderung geht. Mit besonderer Emphase war in den konservativen und ultramontanen Wahlkundgebungen eine „gründliche Revision" der Gewerbeordnung angekündigt worden. Man hat indeß bald erkennen müssen, daß sich dies Wort sehr viel leichter aussprechen, als einlösen läßt. Auch der prinzipielle Gegner des Ge¬ setzes vom 21. Juni 1869 schüttelt einen umfassenden Revisionsentwurf nicht aus dem Aermel. In größerem Umfange haben dies nur die Socialdemokraten versucht. Dagegen haben sich gerade diejenigen, welche mit ihrer Verurtheilung der Gewerbeordnung am buntesten aufgetreten, die Deutschkonservativen, mit einem einzelnen Pnnkte, dem Verhältniß der Arbeitnehmer zu den Arbeitgebern und der Lehrlinge zu den Lehrherren, begnügt. Allerdings ist dies derjenige Punkt, über welchen, zum mindesten soweit es sich um das Lehrlingswesen handelt, die Ansichten am wenigsten auseinander gehen. Auch auf national¬ liberaler Seite hatte man der Lehrlingsfrage seit kürzerer Zeit die größte Auf¬ merksamkeit zugewandt, und aus den Berathungen im Schooße der Partei war schließlich eine Resolution hervorgegangen, welche die Gesichtspunkte angab, uach denen das Lehrlingsverhältniß neu zu regeln sei. In ähnlichem Sinne ging die Fortschrittspartei vor, während das Centrum eine Resolution ein¬ brachte, die nicht allein eine Umgestaltung der Gewerbeordnung überhaupt im Sinne einer „Einschränkung" der Gewerbefreiheit, sondern auch eine Revision des Freizügigkeits- und des Hastpflichtgesetzes forderte. Grenzboten II. 1377. 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/197>, abgerufen am 17.06.2024.