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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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den hervorragendsten Charaktern sich aufrollen zu sehen und namentlich
moralischen Betrachtungen, Vorschriften und Ermahnungen zu begegnen. Was
aber haben wir in dem Buche in Wirklichkeit vor uns? Statt einer übersicht¬
lichen Darstellung der Zeitgeschichte, statt einer Charakteristik der durch sie ent¬
standenen Verhältnisse in der Gesellschaft finden wir nur eine trockene Auf¬
zählung der Begebenheiten im dürftigsten Chronistenstile, die sich fast nur auf
den Vasallenstaat Loo und dessen Hof während eines Zeitraums von 242 Jahren
beziehen, und von stilistischer Gewandtheit, lebendiger psychologischer Charakter¬
schilderung, subjektiven Urtheilen, überhaupt von einem ethischen Standpunkte
ist nirgends die leiseste Spur. Die einzelnen Abschnitte sind stets sehr kurz, und
zwar ist je einer immer einer einzelnen Thatsache gewidmet. Dieselbe mag eine
bewundernswerthe Großthat oder einen scheußlichen Akt der Willkürherrschaft
betreffen, niemals ist zu ersehen, wie der Verfasser der Chronik sich mit seinem
sittlichen Urtheile zu ihr stellt. Ein Mord oder eine edle Handlung oder eine
Sonnenfinsterniß werden genan mit derselben seelenlosen Kaltblütigkeit, mit
derselben stumpfen Gleichgiltigkeit vorgetragen. Als Probe folgende Stellen:
"Im fünfzehnten Jahre begab sich der Herrscher um die Frühjahrswende nach
The. -- Im dritten Monat traf der Herrscher mit dem Gebieter von The zu¬
sammen; sie schlössen einen Vertrag und zogen weiter nach Hwang. -- Kürg
Sun Gaou führte eine Schaar an und bemühte sich mit den übrigen Heer¬
führern seu zu entsetzen. -- Im fünften Monat zur Sommerszeit trat eine
Sonnenfinsterniß ein. -- Im achten Monat brach ein Heuschreckenschwarm in
das Land ein. -- Des Fürsten Tochter begab sich nach ihrem Wohnsitze in
Thang. -- Am Kemao-Tage wurde der Epos-Tempel vom Blitze getroffen".
So geht es im ödesten Einerlei von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter.
Und nun frage man sich, wie der Verfasser es wagen konnte, sich zu rllhmeu,
er habe durch sein Buch die Gerechtigkeit wiederhergestellt!

Konfutse hatte von sich selbst gesagt, er sei nicht gekommen, Neues zu
schaffen, sondern zu erfüllen. Seiner Lehrthätigkeit höchstes Ziel war -- wie
uns die Schriften seiner Schüler glauben lassen möchten--, in verderbter Zeit
die alte Sittenreinheit nen zu schaffen, den verkommenen Lüstlingen der Gegen¬
wart die Musterbilder der Vergangenheit vor die Augen zu halten, die auf
gewissenhafte Beobachtung der Pflichten zwischen Vater und Sohn, Mann und
Weib, Freund und Freund gehalten. Der Mensch sei, wie es Konfutse gelehrt
haben sollte, die Welt im Kleinen. Nur dadurch, daß er unablässig an sich
arbeite, den Sinn veredle, das Herz stähle, den Leib kräftige und sauber halte,
werde es ihm gelingen, die Familie, den Staat im Kleinen, zu heben und zu
verbessern. Nur so dürfte er daran denken, auch zu regieren; denn das Reich
sei nur eine große Familie. Der Kaiser müsse das Volk wie seine Kinder


den hervorragendsten Charaktern sich aufrollen zu sehen und namentlich
moralischen Betrachtungen, Vorschriften und Ermahnungen zu begegnen. Was
aber haben wir in dem Buche in Wirklichkeit vor uns? Statt einer übersicht¬
lichen Darstellung der Zeitgeschichte, statt einer Charakteristik der durch sie ent¬
standenen Verhältnisse in der Gesellschaft finden wir nur eine trockene Auf¬
zählung der Begebenheiten im dürftigsten Chronistenstile, die sich fast nur auf
den Vasallenstaat Loo und dessen Hof während eines Zeitraums von 242 Jahren
beziehen, und von stilistischer Gewandtheit, lebendiger psychologischer Charakter¬
schilderung, subjektiven Urtheilen, überhaupt von einem ethischen Standpunkte
ist nirgends die leiseste Spur. Die einzelnen Abschnitte sind stets sehr kurz, und
zwar ist je einer immer einer einzelnen Thatsache gewidmet. Dieselbe mag eine
bewundernswerthe Großthat oder einen scheußlichen Akt der Willkürherrschaft
betreffen, niemals ist zu ersehen, wie der Verfasser der Chronik sich mit seinem
sittlichen Urtheile zu ihr stellt. Ein Mord oder eine edle Handlung oder eine
Sonnenfinsterniß werden genan mit derselben seelenlosen Kaltblütigkeit, mit
derselben stumpfen Gleichgiltigkeit vorgetragen. Als Probe folgende Stellen:
„Im fünfzehnten Jahre begab sich der Herrscher um die Frühjahrswende nach
The. — Im dritten Monat traf der Herrscher mit dem Gebieter von The zu¬
sammen; sie schlössen einen Vertrag und zogen weiter nach Hwang. — Kürg
Sun Gaou führte eine Schaar an und bemühte sich mit den übrigen Heer¬
führern seu zu entsetzen. — Im fünften Monat zur Sommerszeit trat eine
Sonnenfinsterniß ein. — Im achten Monat brach ein Heuschreckenschwarm in
das Land ein. — Des Fürsten Tochter begab sich nach ihrem Wohnsitze in
Thang. — Am Kemao-Tage wurde der Epos-Tempel vom Blitze getroffen".
So geht es im ödesten Einerlei von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter.
Und nun frage man sich, wie der Verfasser es wagen konnte, sich zu rllhmeu,
er habe durch sein Buch die Gerechtigkeit wiederhergestellt!

Konfutse hatte von sich selbst gesagt, er sei nicht gekommen, Neues zu
schaffen, sondern zu erfüllen. Seiner Lehrthätigkeit höchstes Ziel war — wie
uns die Schriften seiner Schüler glauben lassen möchten—, in verderbter Zeit
die alte Sittenreinheit nen zu schaffen, den verkommenen Lüstlingen der Gegen¬
wart die Musterbilder der Vergangenheit vor die Augen zu halten, die auf
gewissenhafte Beobachtung der Pflichten zwischen Vater und Sohn, Mann und
Weib, Freund und Freund gehalten. Der Mensch sei, wie es Konfutse gelehrt
haben sollte, die Welt im Kleinen. Nur dadurch, daß er unablässig an sich
arbeite, den Sinn veredle, das Herz stähle, den Leib kräftige und sauber halte,
werde es ihm gelingen, die Familie, den Staat im Kleinen, zu heben und zu
verbessern. Nur so dürfte er daran denken, auch zu regieren; denn das Reich
sei nur eine große Familie. Der Kaiser müsse das Volk wie seine Kinder


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[0276] den hervorragendsten Charaktern sich aufrollen zu sehen und namentlich moralischen Betrachtungen, Vorschriften und Ermahnungen zu begegnen. Was aber haben wir in dem Buche in Wirklichkeit vor uns? Statt einer übersicht¬ lichen Darstellung der Zeitgeschichte, statt einer Charakteristik der durch sie ent¬ standenen Verhältnisse in der Gesellschaft finden wir nur eine trockene Auf¬ zählung der Begebenheiten im dürftigsten Chronistenstile, die sich fast nur auf den Vasallenstaat Loo und dessen Hof während eines Zeitraums von 242 Jahren beziehen, und von stilistischer Gewandtheit, lebendiger psychologischer Charakter¬ schilderung, subjektiven Urtheilen, überhaupt von einem ethischen Standpunkte ist nirgends die leiseste Spur. Die einzelnen Abschnitte sind stets sehr kurz, und zwar ist je einer immer einer einzelnen Thatsache gewidmet. Dieselbe mag eine bewundernswerthe Großthat oder einen scheußlichen Akt der Willkürherrschaft betreffen, niemals ist zu ersehen, wie der Verfasser der Chronik sich mit seinem sittlichen Urtheile zu ihr stellt. Ein Mord oder eine edle Handlung oder eine Sonnenfinsterniß werden genan mit derselben seelenlosen Kaltblütigkeit, mit derselben stumpfen Gleichgiltigkeit vorgetragen. Als Probe folgende Stellen: „Im fünfzehnten Jahre begab sich der Herrscher um die Frühjahrswende nach The. — Im dritten Monat traf der Herrscher mit dem Gebieter von The zu¬ sammen; sie schlössen einen Vertrag und zogen weiter nach Hwang. — Kürg Sun Gaou führte eine Schaar an und bemühte sich mit den übrigen Heer¬ führern seu zu entsetzen. — Im fünften Monat zur Sommerszeit trat eine Sonnenfinsterniß ein. — Im achten Monat brach ein Heuschreckenschwarm in das Land ein. — Des Fürsten Tochter begab sich nach ihrem Wohnsitze in Thang. — Am Kemao-Tage wurde der Epos-Tempel vom Blitze getroffen". So geht es im ödesten Einerlei von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter. Und nun frage man sich, wie der Verfasser es wagen konnte, sich zu rllhmeu, er habe durch sein Buch die Gerechtigkeit wiederhergestellt! Konfutse hatte von sich selbst gesagt, er sei nicht gekommen, Neues zu schaffen, sondern zu erfüllen. Seiner Lehrthätigkeit höchstes Ziel war — wie uns die Schriften seiner Schüler glauben lassen möchten—, in verderbter Zeit die alte Sittenreinheit nen zu schaffen, den verkommenen Lüstlingen der Gegen¬ wart die Musterbilder der Vergangenheit vor die Augen zu halten, die auf gewissenhafte Beobachtung der Pflichten zwischen Vater und Sohn, Mann und Weib, Freund und Freund gehalten. Der Mensch sei, wie es Konfutse gelehrt haben sollte, die Welt im Kleinen. Nur dadurch, daß er unablässig an sich arbeite, den Sinn veredle, das Herz stähle, den Leib kräftige und sauber halte, werde es ihm gelingen, die Familie, den Staat im Kleinen, zu heben und zu verbessern. Nur so dürfte er daran denken, auch zu regieren; denn das Reich sei nur eine große Familie. Der Kaiser müsse das Volk wie seine Kinder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/276>, abgerufen am 10.06.2024.