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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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worden war. Während in Deutschland die Kulturbewegung von den Höfen
auszugehen Pflegte, erfuhr sie in Ungarn von Wien aus eher Hemmung als
Förderung. Erst in den zwanziger Jahren des laufenden Jahrhunderts ge¬
schah von Seiten Einzelner sowie durch Vereine mancherlei für den Fortschritt
auf den verschiedenen Gebieten der Kultur, und diese Bestrebungen wurden
fortwährend lebhafter und allgemeiner. Private Rührigkeit und Opferwilligkeit
vermochte indeß den Ansprüchen der Gegenwart nicht zu genügen. Der Staat
mußte sich der Sache annehmen, und er konnte dies erst, nachdem Ungarn 1867
in den Stand gesetzt worden, über sich selbst zu verfügen. Wie viel seitdem
geschehen, zeigt uns eine Skizze der Kulturzustände Ungarns, welcher wir im
ersten Hefte der von Paul Hunfalvi herausgegebenen "Literarischen
Berichte aus Ungarn (Budapest, 1877, in Kommission bei F. A. Brock-
haus in Leipzig und Wien) begegnen, und der wir die folgenden Auszüge ent¬
nehme", indem wir hinzufügen, daß jenes Heft noch zwei andere interessante
Aufsätze: "Die ungarische Akademie der Wissenschaften" und "Die ungarische
Sprachwissenschaft" sowie Berichte über Sitzungen wissenschaftlicher Gesell¬
schaften enthält.

In Ungarn war der öffentliche Unterricht bis in die neueste Zeit herein
in den Händen der Kirche, der Staat gab nichts für denselben her. Die Mittel
für die Lehrerstellen flössen theils aus dem Studienfvnd, der aus dem Ver¬
mögen des aufgehobenen Jesuitenordens gebildet worden, sowie aus speziellen
Stiftungen, theils brachten sie die Kirchen und Gemeinden auf. Erst nach
1867 wurde dies einigermaßen anders, indem der Unterrichtsminister Joseph
v. Eötvös das Volksschulwesen neu regelte. Er entzog dasselbe zwar nicht
ganz den Konfessionen, verfügte aber für alle Fülle, wo dieselben unvermögend
würeu, den Aufforderungen des Gesetzes zu entsprechen, die Errichtung von
Staats- oder Gemeindeschulen ohne konfessionellen Charakter. Er ordnete die
Schulpflichtigkeit der Kinder von ihrem sechsten bis zu ihrem zwölften Lebens¬
jahre an und verpflichtete sie überdies, bis zu ihrem fünfzehnten die sonntäg¬
lichen Wiederhvlungsschnlen zu besuchen. Indem er das Land in 42 Schnl-
bezirke theilte, betraute er ebensoviel^ Inspektoren mit dem Vollzug dieses
Gesetzes. Da die Konfessionen sich bemühten, dem letzteren nach Kräften zu
entsprechen, wurde die Errichtung von Gemeindeschulen nur ausnahmsweise
nothwendig. Nach Verlauf weniger Jahre lagen bereits bedeutende Ergebnisse
dieser Maßregeln vor. 1865 hatten Ungarn und Siebenbürgen nur 13,145,
im Jahre 1874 dagegen schon 15,387 Schulen, und während 1869 erst etwa
48 Prozent der schulpflichtigen die Schule besuchten, geschah dies 1874 von
nahezu 70 Prozent derselben. Dem Uebelstande, daß es an einer hinreichen¬
den Zahl tüchtiger Lehrer fehlte, war die Regierung Hand in Hand mit den


worden war. Während in Deutschland die Kulturbewegung von den Höfen
auszugehen Pflegte, erfuhr sie in Ungarn von Wien aus eher Hemmung als
Förderung. Erst in den zwanziger Jahren des laufenden Jahrhunderts ge¬
schah von Seiten Einzelner sowie durch Vereine mancherlei für den Fortschritt
auf den verschiedenen Gebieten der Kultur, und diese Bestrebungen wurden
fortwährend lebhafter und allgemeiner. Private Rührigkeit und Opferwilligkeit
vermochte indeß den Ansprüchen der Gegenwart nicht zu genügen. Der Staat
mußte sich der Sache annehmen, und er konnte dies erst, nachdem Ungarn 1867
in den Stand gesetzt worden, über sich selbst zu verfügen. Wie viel seitdem
geschehen, zeigt uns eine Skizze der Kulturzustände Ungarns, welcher wir im
ersten Hefte der von Paul Hunfalvi herausgegebenen „Literarischen
Berichte aus Ungarn (Budapest, 1877, in Kommission bei F. A. Brock-
haus in Leipzig und Wien) begegnen, und der wir die folgenden Auszüge ent¬
nehme», indem wir hinzufügen, daß jenes Heft noch zwei andere interessante
Aufsätze: „Die ungarische Akademie der Wissenschaften" und „Die ungarische
Sprachwissenschaft" sowie Berichte über Sitzungen wissenschaftlicher Gesell¬
schaften enthält.

In Ungarn war der öffentliche Unterricht bis in die neueste Zeit herein
in den Händen der Kirche, der Staat gab nichts für denselben her. Die Mittel
für die Lehrerstellen flössen theils aus dem Studienfvnd, der aus dem Ver¬
mögen des aufgehobenen Jesuitenordens gebildet worden, sowie aus speziellen
Stiftungen, theils brachten sie die Kirchen und Gemeinden auf. Erst nach
1867 wurde dies einigermaßen anders, indem der Unterrichtsminister Joseph
v. Eötvös das Volksschulwesen neu regelte. Er entzog dasselbe zwar nicht
ganz den Konfessionen, verfügte aber für alle Fülle, wo dieselben unvermögend
würeu, den Aufforderungen des Gesetzes zu entsprechen, die Errichtung von
Staats- oder Gemeindeschulen ohne konfessionellen Charakter. Er ordnete die
Schulpflichtigkeit der Kinder von ihrem sechsten bis zu ihrem zwölften Lebens¬
jahre an und verpflichtete sie überdies, bis zu ihrem fünfzehnten die sonntäg¬
lichen Wiederhvlungsschnlen zu besuchen. Indem er das Land in 42 Schnl-
bezirke theilte, betraute er ebensoviel^ Inspektoren mit dem Vollzug dieses
Gesetzes. Da die Konfessionen sich bemühten, dem letzteren nach Kräften zu
entsprechen, wurde die Errichtung von Gemeindeschulen nur ausnahmsweise
nothwendig. Nach Verlauf weniger Jahre lagen bereits bedeutende Ergebnisse
dieser Maßregeln vor. 1865 hatten Ungarn und Siebenbürgen nur 13,145,
im Jahre 1874 dagegen schon 15,387 Schulen, und während 1869 erst etwa
48 Prozent der schulpflichtigen die Schule besuchten, geschah dies 1874 von
nahezu 70 Prozent derselben. Dem Uebelstande, daß es an einer hinreichen¬
den Zahl tüchtiger Lehrer fehlte, war die Regierung Hand in Hand mit den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/419>, abgerufen am 09.06.2024.